Cruzifixus
den Tod. Wir alle können teilhaben an dieser göttlichen Gnade! Denn Jesus Christus lädt uns ein zum himmlischen Mahl!“
Simon teilte den Pflichtoptimismus des Abtes nicht. Er war zu sehr Realist, um an ein Himmelreich mit Harfenklang und Engelsgesang glauben zu können. Wenn es so etwas wie eine göttliche Kraft gab, dann durchrang sie alle Lebewesen, auf ewig unsichtbar und unbegreiflich. Ein Mysterium, das die menschliche Vorstellungskraft weit überstieg. Eine magische Anziehungskraft zog seine Blicke hinauf zu den Bergen – und weiter zu den lichten Weiten des Horizonts. Ging es hinterm Horizont wirklich weiter? Und wenn? Was lag dahinter, das Nichts? Das Eigentümliche aller Philosophie war das Streben nach Erkenntnis. Doch was konnte der Mensch von Gott wissen? Nichts! Das Wissen des Menschen würde stets lückenhaft, fragmentarisch bleiben, die Wissenschaft würde nie eine Antwort auf die Frage nach dem Sein, nach dem Urgrund, nach der prima causa liefern. Der Mensch war dazu verdammt, sich das Vergebliche all seiner Bemühungen einzugestehen. Sokrates wusste es:
„Oida ouk eidos!“
Die Sonne hing direkt über ihnen. Simon musste gegen das Licht blinzeln, um etwas erkennen zu können. Birnbacher breitete die Arme zu einer majestätischen, die ganze Gemeinde einbeziehenden Geste. Im Gegenlicht sah es für einen kurzen Augenblick so aus, als ob er sich in der Art eines indischen Sadus über die Gesetze der Gravitation hinwegsetzte und über der Erde schwebte:
„Es ist an Euch, ob ihr glauben, ob ihr zu Christus kommen wollt! Öffnet eure Herzen – und die Pforten des Himmels stehen offen!“
Ein sich öffnender Himmel - welch naive, welch kindliche Vorstellung. Es war Zeit so schnell und unauffällig wie möglich von hier zu verschwinden. Er warf Vroni ein Kusshändchen zu und kämpfte sich unter gemurmelten Entschuldigungen zum Ausgang durch. Geschafft! Simon lehnte sich mit den Rücken an das von der Sonne aufgeheizte Backsteingemäuer. Vor ihm lag ein weiter, mit Kopfstein gepflasterter Platz. In seiner Mitte reckte eine dreihundertjährige Linde ihre knorrigen Äste gen Himmel. Auf der Bank im Schatten des Baumriesen saß ein südländisch aussehender Mann und blätterte gelangweilt in der Zeitung. Ein versprengter Kultur-Touri, einer der Chauffeure, der auf seinen Chef wartete? Was ging es ihn an? Simon schloss die Augen, spürte wie das Licht seine Lider kitzelte. Es gab Momente, da schien die Zeit stillzustehen. Magische Momente, da die Welt den Atem anhielt und zur Besinnung kam. Momente, die einen die Qualen der Seele als etwas Erhabenes erleben ließen. In dem sich der Mensch seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst wurde und sich schweigend und schaudernd unter den hohen schwarzen Zypressen einer antiken Nekropole erging.
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