Cryer's Cross
der Gottesdienst wird nicht mehr eingeblendet. Kendall macht den Fernseher aus und starrt an die Decke, um Nicos auf ihre eigene Weise zu gedenken. Sie denkt an sein Lächeln und das Leuchten in seinen Augen. Daran, dass er alles für sie getan hätte und sie für ihn.
Sie denkt an ihre Romanze, die sozusagen als Nebenprodukt ihrer Freundschaft, als ein Experiment, begonnen hatte. Ihre Eltern hatten immer davon gesprochen, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Es war einfach schon seit ihrer Kindheit so vorherbestimmt.
Sie muss daran denken, dass sie ihn nie gerne als ihren festen Freund bezeichnet hat, bevor er verschwand. Sie weiß, dass er in sie verliebt gewesen ist. Aber sie hatte ihn nur lieb. Es war nicht dasselbe. Er war so ein guter Mensch, dass sie wusste, sie hätte ihn lieben sollen. Wer hätte das nicht? Aber es war keine Leidenschaft dabei gewesen. Es war nett, versteht sie nun, aber mehr auch nicht. Sie denkt daran, was bei ihnen so besonders gewesen ist. Dass das Küssen nicht wirklich wichtig war. Aber Loyalität, darum hatte sich alles gedreht.
Die Tränen laufen ihr über das Gesicht, als sie an Nicos Gutherzigkeit denkt. An die Erinnerungen, die sie nie vergessen wird. An all die vielen Male, die er für sie eingetreten ist, das einzige Mädchen in der Klasse, und all die Male, die sie ihn ehrlich geschlagen hat, in einem Fußballspiel, bei einem Test oder einem Rennen hinunter zum Fluss. Sie weint für all die Menschen, denen er nicht mehr helfen kann, wegen des Schulabschlusses, den er nie bekommen wird, wegen seiner Eltern und seiner Familie, die nie wieder dieselbe sein wird. Und wegen des Lochs in ihrem Herzen, das der Verlust des besten Freundes hinterlassen hat.
Und dann weint sie wegen der Art, wie er sterben musste. Sie weiß, was er durchgemacht hat, und sie kann nur hoffen, dass er so sehr unter dem Einfluss der verlorenen Seelen stand, dass er nicht merkte, was er sich selbst Schreckliches antat. Sie fragt sich, wessen Stimme er gehört hat. Vielleicht war es Tiffanys. Er war der Typ dafür, jemanden in Not zu retten, daran gibt es keinen Zweifel. Aber darauf wird sie niemals eine Antwort bekommen.
Es waren ihre Zwangsstörungen, die sie gerettet haben. Das weiß sie. Und auch wenn sie es hasst, wie sie sie beeinflussen und ihren Tagesablauf stören, schwört sie, dass sie sich nie wieder darüber beschweren wird.
***
Sie sitzt auf einem Stuhl, frisch geduscht und leicht erschöpft von der Anstrengung, aber sie wünscht sich trotzdem, sie könne einfach aus dem Krankenhaus weglaufen, als plötzlich das Telefon klingelt. Sie schlurft hinüber und nimmt ab. Ihre Stimme ist noch immer kratzig, aber die Schmerzen in ihrem Hals lassen langsam nach.
»Hallo?«
»Hi.«
Ihr Magen verkrampft sich. »Hi. Wie geht es dir?«
Es herrscht Stille in der Leitung, und Kendall fragt sich, ob Jacián schon wieder aufgelegt hat.
Doch endlich antwortet er. »Mir geht es gut. Ich … ich wollte nur fragen, wie es dir geht. Ist es ein schlechter Zeitpunkt?«
»Nein. Ich meine ja, es geht mir gut. Nein, es ist kein schlechter Zeitpunkt.« Sie setzt sich auf die Bettkante. »Ich habe dich im Fernsehen gesehen, bei der Gedenkfeier …«
»Tatsächlich?«
»Ja. Aber es war nicht lange. Sie haben gleich zur nächsten Tragödie umgeschaltet. Du hast gut ausgesehen.«
»Danke. Kendall?« Er klingt ängstlich.
»Ja?«
»Es tut mir leid, dass ich dich nerve. Ich weiß, dass es eine schwere Zeit für dich ist, wegen Nico und all dem, und wahrscheinlich willst du mich gar nicht sehen. Aber ich habe gerade an dich denken müssen … Gott. Ich muss immer an dich denken. Hast du etwas dagegen, wenn ich zu dir hochkomme?«
Kendall stutzt. »Wo bist du denn?«
»In der Lobby.« Er klingt jämmerlich.
Kendalls Magen macht einen Satz. Sie schluckt schwer. »Ich … ich sehe grässlich aus. Blaue Flecken, Schrammen … Aber ich schätze mal, das hast du schon gesehen.«
»Wenn du nicht willst, dass ich raufkomme, ist das in Ordnung. Es war nur so eine spontane Idee. Ich bin nach dem Gottesdienst herumgefahren und hier gelandet. Ich kann auch wieder fahren.«
»Nein! Ich meine, bitte, komm herauf. Ich wollte dich nur warnen. Zimmer vier sechzehn.«
Es ist still. Sie hört einen Atemzug. »Ich bin auf dem Weg.«
Kendall legt auf und rennt ins Bad, um ihre Haare zu richten. Sie schüttelt sie vors Gesicht, um die Schrammen zu verstecken, doch das sieht noch schlimmer aus, also streicht sie sie
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