Cryer's Cross
…
Kendall steigen Tränen in die Augen, wenn sie sich an diesen Sommer erinnert, in dem sie mit dem Traktor über die Felder gefahren ist und sich mit solch furchtbaren Dingen beschäftigt hat. Es schien so real, so schrecklich, als ob jederzeit jemand aus dem Wald kommen und sie überfallen könnte.
Sie weiß, dass ihre Gedanken zum Teil irrational sind. Sie weiß es und hat es immer gewusst, selbst in der fünften Klasse, als sie sich mehrere Kleidungsschichten angezogen hatte – vier T-Shirts, drei paar Unterhosen, Shorts unter der Jeans – und sich trotzdem vor Panik und Nervosität die Augen ausgeheult hatte, vor lauter Angst, man könne sie durch ihre Sachen hindurch nackt sehen. Es war eine schreckliche Zeit gewesen. Doch die Psychologin in Bozeman hat ihr geholfen. Sie hat ihr die Sache mit den obsessiven Zwangsstörungen erklärt, und irgendwann ging diese eine Phase vorbei, nur um von anderen Neurosen und Zwängen ersetzt zu werden.
Sie ist nicht verrückt. Sie kann nur nicht aufhören, über etwas nachzudenken, wenn sich komische Ideen in ihrem Kopf festsetzen. Und sie kann es nicht verhindern, dass sie sich ständig umsieht – es ist ihr neuester Tick. Die ganze Sache mit Tiffany hat sie etwas zurückgeworfen.
Sie ist froh, wieder zur Schule zu gehen, auch wenn sie ein wenig traurig darüber ist, wie das letzte Schuljahr zu Ende ging. Trotzdem freut sie sich darauf, das neue Jahr zu beginnen, neue Gedanken zu haben, neue Aufgaben, die ihr Gehirn beschäftigen – einfache, harmlose Dinge. Und außerdem beginnt das Fußballtraining bald wieder, neue DVD-Tänze müssen einstudiert werden – es gibt also einiges, womit sie Körper und Geist beschäftigen kann, und das ist eine Erleichterung.
An diesem ersten Tag räumt sie das Klassenzimmer so auf, wie es der alte Mr Greenwood nie tut. Sie dreht den Mülleimer so, dass die Delle in die richtige Richtung zeigt, legt die Tafelkreide ordentlich hin, sortiert sie farblich nach den Regenbogenfarben und zupft die Vorhänge zurecht. Dann stellt sie die Pulte in ordentlichen Quadranten zusammen, jeweils sechs Tische für jede Highschool-Klasse. Sie schafft Gänge, damit die Lehrerin zwischen den Bereichen hindurchlaufen und sich um jede Klasse einzeln kümmern kann, anstatt alle vierundzwanzig Bänke vor sich zu haben. So mag Kendall es.
Niemand hat sich jemals beschwert.
Niemand weiß es.
Die Pulte sind uralt und robust. Sie stammen aus den fünfziger Jahren und wurden vom Staat sonst woher zusammengesammelt. Es ist anstrengend, sie alle umzustellen, aber als alles wieder seine Ordnung hat, fühlt sich Kendall besser. Sie sieht, wo ihr alter Tisch gelandet ist, er steht dieses Jahr im Quadranten der Neuntklässler. In der zehnten gibt es jetzt einen freien Platz, es sei denn, die Gerüchte stimmen. Nico sagt, es sei eine neue Familie in die Stadt gezogen, obwohl Kendall noch niemand Fremden gesehen hat. Sie hofft, dass jemand den leeren Platz von Tiffany einnehmen wird, damit auch in diesem Teil des Klassenzimmers wieder alles stimmt. Obwohl es natürlich am besten wäre, wenn Tiffany einfach zurückkäme. Aber Sheriff Greenwood und die lokalen Nachrichtensprecher halten das für unwahrscheinlich. Nicht nach so langer Zeit.
Kendall zieht die Vorhänge weit genug zur Seite, dass sie am Rand mit der Fensterlaibung abschließen. Dann gewinnt ihre irrationale Furcht die Oberhand, und sie überprüft die Fensterverriegelungen, müht sich erst damit ab, die Fenster aufzumachen, um zu sehen, ob die Riegel stabil sind, und lässt dann die Finger prüfend über jedes einzelne Schloss gleiten.
»Alles gecheckt, alles in Ordnung«, stellt sie fest. Es ist zwar niemand da, der sie hören kann, doch wenn sie es nicht laut sagt, zählt es nicht.
Als sie die ersten Schüler durch den Garten in die kleine Schule kommen sieht, betrachtet Kendall ihr Werk. Die Tür geht auf. Kendall geht zu ihrem neuen Platz im Quadranten für die Zwölftklässler, nimmt ein antiseptisches Tuch aus der Büchertasche und wischt schnell ihr Pult ab, bevor es jemand bemerkt und sich über sie lustig macht. Sie muss sich nicht zwanghaft die Hände waschen wie andere, aber sie weiß gerne Bescheid über den aktuellen Bakterienstand ihres persönlichen Arbeitsplatzes zu Beginn eines neuen Schuljahres.
Tut das nicht jeder?
Jetzt hat Nico sie entdeckt und kommt auf sie zu. Das glatte, weißblonde Haar hängt ihm in die Augen. Er hat den Namen seines spanischen Vaters, aber das Aussehen
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