Cryer's Cross
nur wir beide bemerken würden, dass es ausgetauscht wurde.«
Tief in Gedanken nickt sie. Dann wendet sie sich zu ihm um und sieht ihm forschend ins Gesicht.
»Hector hat gesagt, du hättest das Flüstern auch gehört.«
Er nickt.
»Ja. Ich habe geglaubt, meine Sinne spielen mir einen Streich. Aber dann habe ich mich daran erinnert, wie du diesen Tisch umarmt hast, wenn du hier gesessen hast.« Er berührt sie am Arm. »Ich habe meine Hand viel länger darauf liegen lassen, als ich zugeben möchte. Ich konnte nicht aufhören. Beinahe hätte er mich auch gehabt, Kendall.«
Sie beißt sich auf die Lippe.
»Wessen Stimme hast du gehört?«
Er schluckt, berührt ihr Gesicht.
»Deine.«
Nach der Schule fährt sie mit Jacián zu dem kleinen Friedhof. Ein paar Schneeflocken fallen auf den grauen Boden. Kendall steigt aus dem Pick-up und geht langsam zu den Gräbern. Jacián bleibt zurück, lässt ihr etwas Raum. Sie starrt auf die frische Erde und schaudert vor Kälte und vor der Erinnerung, der Erinnerung an sein lebloses Gesicht, das sie nie wieder vergessen wird.
Sie kämpft gegen die Gedanken an, die sich in ihrem Kopf breitmachen wollen. Stattdessen konzentriert sie sich auf neue, erinnert sich an die schönen Zeiten mit dem besten Freund, den man sich nur vorstellen konnte. Sie gibt Jacián über die Schulter hinweg ein Zeichen, streckt die Hand nach ihm aus und legt sie ihm um die Taille. Er legt den Arm um ihre Schulter und zwirbelt abwesend ihre Haare in den Fingern. Gemeinsam und in Stille erweisen sie Nico die letzte Ehre.
Sie hat keine Tränen mehr.
Im leise fallenden Schnee kniet sie neben dem Grab. Sie schließt die Augen und stellt ihn sich vor, das lange blonde Haar, das um sein Gesicht fliegt, und sein Grinsen. Sie lächelt ihm zu.
»Ich werde dich vermissen«, haucht sie. »Auf Wiedersehen, Nico.«
Am Abend sind Jacián und Kendall auf Hectors Ranch. Auf dem Küchentisch stapeln sich Kataloge um einen Laptop. Sie recherchieren.
»Da ist die NYU Tisch in New York«, erklärt Jacián. »Oder die FSU Dance . Das ist in Florida. Was ist mit Hartford?«
Kendall blättert in den Broschüren.
»Es gibt eine Menge Tanzschulen«, muss sie zugeben.
»San Diego, Ohio oder, hey, vielleicht die Universität von Arizona. Da unten haben wir gewohnt.«
»Keine Kartoffeln?«
Jacián muss lächeln. »Keine Kartoffeln. Zitronen, Limonen, Avocados. Und ein paar Pferde.«
»Ich mag Pferde. Und ich hasse Kartoffeln.«
Er drückt sie an sich. »Sobald deine Noten wieder besser sind, hast du jede Menge Möglichkeiten.«
Kendall seufzt.
»Ja, was die Noten angeht, war es wahrscheinlich keine so gute Idee, alles und jeden zu ignorieren.«
»Hey«, sagt er und hebt ihr Kinn an, sodass sie ihm in die Augen sehen muss. »Du hast es überlebt.«
Sie nickt.
»Lass uns eine Pause machen.«
Sie ziehen ihre Jacken an und gehen auf die Veranda. Draußen ist es eiskalt. Jacián lehnt sich ans Geländer, zieht sie an sich und küsst sie sanft. Sie lehnt sich an ihn und hält ihn fest, fühlt seinen Körper durch sein Hemd und seinen Herzschlag an ihrem. Träge zählt sie die Schläge, mehr aus Gewohnheit als aus Zwang.
»Ich rieche ein Feuer«, sagt sie schließlich.
»Hm-hm.«
»Willst du laufen? Sollen wir nachsehen?«
»Klar.«
Sie gehen Hand in Hand, bis sie die Flammen sehen und das Knistern hören können. Hector und der alte Mr Greenwood haben Schaufeln in der Hand. Das flackernde Feuer lässt ihre Schatten gespenstisch auf den Bäumen hinter ihnen tanzen. Das Gerippe des Pultes steht auf seinen Metallfüßen, das Feuer leckt daran, und wütender Rauch steigt empor.
Jacián und Kendall kommen vorsichtig näher, dann sehen sie zu. Schweigend stehen sie neben den ernsten Männern, und sie denken an die Jungen, die vor so vielen Jahren auf diesem Pult gestorben sind. Und die Schüler, die im letzten Jahr deshalb ihr Leben lassen mussten.
Kendall räuspert sich.
»Was ist eigentlich aus dem Jungen in der Geschichte geworden? Piere?«
Hector reißt sich aus seinen Gedanken und sieht den alten Mr Greenwood an, der finster in das Feuer starrt.
»Er hat es geschafft«, sagt Hector leise. »Er hat sich stolz gemacht.«
Als der Holztisch in sich zusammenfällt und in der Asche versinkt, spürt Kendall, wie ihr ein kalter Hauch aus der Lunge entfährt, und hört einen schwachen, langgezogenen Schrei.
Doch dann ist es wieder still.
Wir
Wir spüren die Hitze und einen Moment lang glauben Wir! Das Leben ist
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