Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
wurden besser bewacht als die Staatskasse. Ihretwegen hatte Artur die Schule in der Eremitage einrichten lassen und ihnen vier Säle in seinem eigenen Stockwerk überlassen, in denen sie lebten wie in einem Internat. Nachdem die Museumsleute in normale Wohnhäuser umgezogen waren, war der Winterpalast zum ersten Mal seit hundert Jahren ungewöhnlich leer …
Prochor der Zweite hatte sich praktisch vom Berufsleben zurückgezogen, seine Stelle nahm nun eine Tochter Annas ein. Die neuen Drachenmodelle zeigten sich den alten deutlich überlegen. Sie verfügten über ein Transportvolumen von bis zu sechshundert Kilo und legten fünfhundert Kilometer ohne Zwischenlandung zurück. Auf ihren Rücken fanden vier Menschen Platz, die Fracht nicht mitgerechnet. In Erinnerung an die Märchen, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte, hatte Anna die Dritte für eine goldene und zart fliederfarbene Färbung der Schuppen gesorgt. Die zehn Meter langen milchweißen Flügel wurden zur Sicherheit des Bodenpersonals mit festen Schnüren ruhiggestellt. Auf der schmalen Terrasse der Hängenden Gärten hätten die Drachen sonst mit einer einzigen Bewegung jeden Menschen um sich herum gefährlich verletzt.
»Wohin wollen wir zuerst, Artur?«, fragte Lew, der gerade eine Karte Europas ausbreitete. »Was hast du entschieden?«
»Zuerst gehen wir nach Paris.«
»Und was machen wir, wenn es dir gelingt, sie zu wecken – und die Herrschaften dann fliehen, genau wie jenes Pärchen, das dich in Moskau verraten hat?«
»Ich weiß es nicht, Lew. Vielleicht müssen wir dann Gewalt anwenden. Ich hoffe, sie verstehen wenigstens Englisch.«
»Schon wieder Gewalt. Mittlerweile löst du jede Frage ausschließlich mit Gewalt.«
»Ich weiß, Lew.«
»Dabei sind das Menschen, keine Wilden. Es sind Ingenieure. Weißt du eigentlich, was sich in meinem Inneren abspielt? Ich kann kaum glauben, dass ich diesen Moment noch erleben darf. Den Moment, in dem ich andere Erwachte kennenlerne. Und da erwägst du Gewalt …«
»Hör auf, an mir rumzukritteln, Lew, ich habe schon genug Sorgen.«
»Ich bin zu alt, um an dir rumzukritteln.«
»O nein. Es gibt genau zwei Menschen, die an mir rumkritteln, einer davon bist du, der andere ist Nadja. Berder versteht das alles eh nicht, für Ismail gilt das Gleiche.«
»Sie leben im Wald, mit der Stadt haben sie nichts am Hut«, erwiderte Lew, packte das Fernglas und den Kompass ein, schloss auch die letzte Tasche und übergab sein Gepäck den Soldaten. Die Männer warfen derbe Riemen über den Drachenrücken und begannen, sich mit beiden Füßen gegen den Boden stemmend, das Geschirr über dem breiten Rücken des Tiers festzuziehen. Unterdessen fuhr der Alte fort: »Ist dir schon einmal aufgefallen, Artur, dass dich immer weniger Menschen verstehen. Denn du versuchst, ihnen Dinge nahezubringen, die vor dem Großen Tod üblich waren.«
»Ich versuche, die Zivilisation wiederherzustellen.«
»Du hast mir einmal gesagt, die Duma sei die Zivilisation. In den letzten zehn Jahren hast du mir viermal versprochen, die Duma einzuberufen. Aber bis heute hat es keine freien Wahlen gegeben.«
»Wir führen die ersten Wahlen durch, sobald ich davon überzeugt bin, dass die Kinder der Hüter und Wilden nicht unter dem Ergebnis zu leiden haben. Sobald ich davon überzeugt bin, dass die Gerichtskammer endlich ihre eigenen Codices versteht. Sobald ich davon überzeugt bin, dass die Menschen die klügsten Köpfe wählen, nicht die lautesten. Vor allem aber: sobald sich die privaten Geschäftsleute nicht länger bereichern.«
»In dem Fall werden wir beide die Wahlen wohl nicht mehr erleben. Oder glaubst du wirklich, die Menschen werden die Besten unter ihnen wählen, nachdem die Kommunen zerschlagen worden sind? Noch dazu, wo heute alle vereinzelt leben?! Was die Wohnungskammer da anrichtet, indem sie alle Menschen durcheinanderwürfelt …«
»Dafür gibt es heute keine Aufstände mehr!«
»Du hast die Macht nur dank der Wipper an dich bringen können. Und natürlich dank der Hunde und der geflügelten Drachen. Aber was, wenn die Wipper einen anderen Gouverneur nicht so unterstützen wie dich?«
»Genau dafür haben wir bereits die Garde, das Tribunal und die Geheimwache. Sie werden dafür sorgen, dass dieser Staat überdauert.«
»Das sind genau die Einrichtungen, die du dem alten Gouverneur immer angekreidet hast.«
»Der übrigens immer noch am Leben ist und es sich in seinem Dorf gut gehen lässt! Was meinst du, soll
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