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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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in eine Situation zu bringen, in der er vom Feind gefangen genommen werden könnte. In diesem Sinne ist der Krieg für Lawrence Pritchard Waterhouse ganz plötzlich vorbei.

DER SAME DES ONAN
    Ein System von eurotunnelgroßen Luftschächten, ebenso ausgedehnt und unergründlich wie das globale Internet, verästelt sich durch die dicken Wände und Decken des Hotels und gibt schwache, gedämpfte Geräusche von sich, die den Eindruck erwecken, tief im Innern dieses Systems befänden sich ein Testgelände für Düsentriebwerke, eine Schmiede aus der Eisenzeit, erbarmungswürdige Gefangene in klirrenden Ketten und ein Klumpen sich windender Schlangen. Randy weiß, dass das System keine geschlossene Schleife ist – dass es irgendwo mit der Erdatmosphäre verbunden sein muss -, denn von außen ziehen schwache Straßengerüche herein. Seine Erfahrung sagt ihm, dass es eine Stunde dauern kann, bis sie in sein Zimmer durchgedrungen sind. Im Laufe der Wochen, die er nun schon hier wohnt, haben die Gerüche die Funktion eines olfaktorischen Weckers übernommen. Er schläft beim Gestank von Dieselauspuffgasen, denn die verkehrstechnischen Bedingungen in Manila machen es erforderlich, dass die Containerschiffe nachts be- und entladen werden. Manila breitet sich entlang einer warmen, ruhigen Bucht aus, die einen unerschöpflichen Vorrat an Schwüle besitzt, und da die Atmosphäre so dick und undurchsichtig und heiß wie ein Glas euterfrische Milch ist, beginnt sie zu glühen, sobald die Sonne aufgeht. Daraufhin fangen Manilas Regimenter und Divisionen von Kampfhähnen, eingesperrt in behelfsmäßigen Käfigen auf jedem Dach, Balkon und Hof, zu krähen an. Davon erwachen die Menschen und beginnen, Kohle zu verbrennen. Der Geruch von Kohlenfeuer ist es, der Randy aufweckt.
    Randy Waterhouse befindet sich in einem gerade noch annehmbaren Gesundheitszustand. Sein Arzt sagt ihm zwar gebetsmühlenartig, er könnte zwanzig Pfund weniger wiegen, aber es ist nicht ohne weiteres zu sehen, wo diese zwanzig Pfund eigentlich herkommen sollen – er hat keinen Bierbauch, keine ins Auge fallenden Rettungsringe. Die fraglichen Pfunde scheinen gleichmäßig über seinen fassförmigen Körper verteilt zu sein. Jedenfalls sagt er sich das jeden Morgen, wenn er vor dem reklametafelgroßen Spiegel in seiner Suite steht. Im Haus von Randy und Charlene in Kalifornien gibt es praktisch keine Spiegel, weshalb ihm gar nicht so recht klar war, wie er aussieht. Jetzt erst wird ihm bewusst, dass sein Haarwuchs atavistische Züge hat und sein Bart von schimmerden, grauen Haaren durchsetzt ist.
    Jeden Tag ist er aufs Neue versucht, diesen Bart abzunehmen. In den Tropen möchte man möglichst viel von seiner Haut, an der der Schweiß hinunter rinnt, der Luft aussetzen.
    Eines Abends, als Avi und seine Familie zum Abendessen gekommen waren, hatte Randy zur Veranschaulichung ihrer geschäftlichen Beziehung gesagt: »Ich bin der Bart und Avi ist der Anzug«, womit er Charlene ihr Stichwort lieferte. Charlene hatte kurz zuvor einen wissenschaftlichen Artikel verfasst, in dem sie Bärte dekonstruierte. Dabei ging es ihr vor allem um die Bartkultur in der nordkalifornischen High-Tech-Gemeinschaft – Randys Verein. Ihre Abhandlung begann damit, dass sie irgendwie die Annahme widerlegte, Bärte seien »natürlicher« oder leichter zu pflegen als glatt rasierte Gesichter – dazu veröffentlichte sie Statistiken, die die Gillette-Forschungsabteilung erstellt und in denen sie verglichen hatte, wie viel Zeit bärtige und bartlose Männer täglich im Bad verbrachten; es zeigte sich, dass der Unterschied statistisch nicht relevant war. Randy hatte eine Menge Einwände gegen die Art, wie diese Statistiken zustande gekommen waren, aber Charlene akzeptierte keinen einzigen davon. »Es ist einfach kontraintuitiv«, sagte sie.
    Sie hatte es eilig, zum Kern ihrer Argumentation zu kommen. Sie fuhr rauf nach San Francisco und kaufte in einem Laden, der sich auf die Bedürfnisse von Rasier-Fetischisten spezialisiert hatte, für einige hundert Dollar Pornofilme. Immer wenn Randy in den darauffolgenden Wochen nach Hause kam, fläzte sich Charlene mit einer Schüssel Popcorn und einem Diktaphon vor dem Fernseher und schaute sich Videos von einem geraden Rasiermesser an, das über nasses, eingeseiftes Fleisch fuhr. Sie tippte langatmige Interviews mit ein paar richtigen Rasierfetischisten, die in allen Einzelheiten das Gefühl von Nacktheit und Verwundbarkeit schilderten, das sie beim

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