Cryptonomicon
erdrosseln.
Commander Schoen bleibt vollkommen ungerührt, außer dass er ein einziges Mal ganz langsam blinzelt. Er wendet sich an einen seiner Untergebenen, der, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, an der Wand steht, und sagt: »Besorgen Sie dem da eine Kopie des Cryptonomicon. Und einen Schreibtisch – so nahe bei der Kaffeemaschine wie möglich. Und wo Sie gerade dabei sind, befördern Sie den Kerl doch auch gleich.«
Die Bemerkung über die Beförderung ist, wie sich herausstellt, entweder militärischer Humor oder ein weiterer Beleg für Commander Schoens geistige Labilität.Von dieser kleinen komischen Einlage abgesehen, ist die Geschichte von Waterhouse in den zehn Monaten ab diesem Zeitpunkt nicht sehr viel komplizierter als die Geschichte einer Bombe, die soeben aus dem Bauch eines sich herabstürzenden Flugzeugs ausgeklinkt worden ist. Was ihm an Hindernissen im Weg steht (das Durchackern des Cryptonomicon, das Knacken des Meteorologischen Codes der japanischen Luftwaffe, das Knacken der Maschinenchiffre für den Angriff im Korallenmeer, das Knacken des Unbenannten Japanischen Schiffstransport-Codes 3A, das Knacken des Codes des Ministeriums für die Großostasiatische Wohlstandssphäre) bietet etwa so viel Widerstand wie die aufeinander folgenden Decks einer wurmzerfressenen Holzfregatte. Binnen weniger Monate schreibt er sogar neue Kapitel des Cryptonomicon. Die Leute reden davon, als handele es sich um ein Buch, aber es ist keines. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Zusammenstellung sämtlicher Papiere und Notizen, die sich in dem Zeitraum von etwa zwei Jahren, die Commander Schoen nun schon in Station Hypo, so die offizielle Bezeichnung 3 , stationiert ist, in einer bestimmten Ecke seines Schreibtisches angesammelt haben. Es ist alles, was Commander Schoen über das Knacken von Codes weiß, und das bedeutet, alles, was die Vereinigten Staaten von Amerika wissen. Dieses Wissen könnte jederzeit vernichtet werden, wenn ein Hausmeister für ein paar Minuten ins Zimmer käme und einmal gründlich aufräumte. Aus dieser Einsicht heraus haben Commander Schoens Kollegen im Offiziersrang energische Maßnahmen ergriffen, um jegliche Reinigung oder hygienische Operation jeder Art und Beschreibung im gesamten Flügel des Gebäudes, der Commander Schoens Büro enthält, zu verhindern. Mit anderen Worten, sie wissen genug, um zu begreifen, dass das Cryptonomicon furchtbar wichtig ist, und sie sind so schlau, die Maßnahmen zu ergreifen, die nötig sind, um es nicht zu gefährden. Manche konsultieren es sogar von Zeit zu Zeit und dechiffrieren mit seiner Hilfe japanische Funksprüche oder knacken sogar ganze Kryptosysteme. Aber Waterhouse ist der Erste, der daherkommt und gut genug ist, (zunächst) auf Irrtümer in Schoens Aufzeichnungen hinzuweisen, (bald darauf) den Inhalt des Stapels zu so etwas wie einem geordneten Werk zusammenzustellen und ihm (schließlich) eigenes Material beizufügen.
Irgendwann nimmt ihn Schoen mit nach unten, führt ihn bis ans Ende eines langen, fensterlosen Korridors, zu einer wuchtigen, von bulligen Myrmidonen bewachten Tür, und zeigt ihm das zweittollste Ding, das es in Pearl Harbor gibt, nämlich einen Raum voller Geräte der Electrical Till Corporation, die man hauptsächlich dazu benutzt, Häufigkeitszählungen bei abgefangenen japanischen Funksprüchen vorzunehmen.
Die bemerkenswerteste Maschine 4 auf Station Hypo jedoch – und das allertollste Ding in Pearl Harbor – befindet sich noch tiefer im Bauch des Gebäudes. Sie ist in einem Raum untergebracht, der einem Tresorraum vergleichbar wäre, wenn er nicht komplett mit Sprengladungen verdrahtet wäre, damit sein Inhalt im Fall einer japanischen Großinvasion pulverisiert werden kann.
Das ist die Maschine, die Commander Schoen vor über einem Jahr gebaut hat, um den japanischen Code mit Namen Indigo zu knacken. Augenscheinlich war Schoen noch Anfang 1940 ein gut angepasster, geistig gesunder junger Mann, dem ein paar riesenlange Listen mit Zahlen in den Schoß fielen, zusammengestellt von Abhörstationen im gesamten pazifischen Raum (vielleicht, denkt Waterhouse, Alpha, Bravo etc.). Bei diesen Zahlen handelte es sich um japanische Funksprüche,die irgendwie verschlüsselt worden waren – Indizien deuteten darauf hin, dass man sich dabei irgendeiner Art von Maschine bedient hatte. Von dieser Maschine war allerdings absolut nichts bekannt: ob sie mit Zahnrädern, Drehwählern, Stecktafeln, einer
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