Cryptonomicon
grünlichen Gifthimmel recken, zehn Millionen Gasmasken werden daran baumeln, zehn Millionen Kinne werden in sie hineinstoßen. Er kann sich das klare, sinnliche Geräusch, mit dem sich die glatte weiße Haut der Frau in den beengenden schwarzen Gummi zwängt, gut vorstellen.
Sobald der Kinnstoß vollzogen ist, wird alles gut. Man muss sich die Riemen ordentlich über die kastanienbraune Dauerwelle ziehen und sich ins Haus begeben, doch die schlimmste Gefahr ist vorüber. Die britischen Gasmasken haben vorn einen flachen, runden Aufsatz, der einem das Ausatmen ermöglicht und genau wie eine Schweineschnauze aussieht, und wären die Modelle auf den Gasmaskenplakaten nicht solche Muster überirdischer Schönheit, würde sich keine Frau jemals mit einem solchen Ding im Gesicht blicken lassen.
Draußen in der Dunkelheit vor dem Fenster fällt ihm etwas ins Auge. Die Bahn hat eine jener Stellen im Untergrund erreicht, wo trübes, gewehrlauffarbenes Licht herabsickert und die stygischen Geheimnisse der Röhre preisgibt. Jeder im Wagen blinzelt, blickt hinaus, holt Atem. Einen Moment lang hat sich die Welt um sie herum rematerialisiert. Mauerfragmente, überkrustete Träger, Kabelbündel hängen dort draußen im Raum und drehen sich langsam, wie Himmelskörper, während der Zug vorüberfährt.
Die Kabel fallen Waterhouse auf: in parallelen Zügen ordentlich an die Steinwände geklammert. Sie gleichen den Ranken irgendeines plutonischen Efeus, der sich durch die Dunkelheit der U-Bahn-Schächte ausbreitet, wenn das Wartungspersonal nicht aufpasst, und eine Stelle sucht, an der er nach oben ins Licht durchbrechen kann.
Wenn man dort oben, über der Erde, eine Straße entlanggeht, kann man die ersten Ableger an den alten Wänden der Gebäude emporkriechen sehen. Neoprenummantelte Stränge, die in geraden Linien an blanken Steinwänden emporwachsen, sich durch Löcher in Fensterrahmen einbohren, sich besonders auf Büros ausrichten. Manchmal sind sie von Metallröhren umschlossen. Manchmal haben die Hausbesitzer sie überstrichen. Aber sie alle haben ein gemeinsames System von Wurzeln, die in den unbenutzten Rinnen und Ritzen der U-Bahn wuchern und in gewaltigen Schaltstationen in tiefen, bombensicheren Gewölben zusammenlaufen.
Der Zug fährt in eine Kathedrale von schmutzigem, gelbem Licht ein und kommt ächzend zum Stehen, wobei er den ganzen Mittelgang mit Beschlag belegt. In Nischen und Grotten schimmern gespenstische Ikonen der nationalen Paranoia. Das eine Ende des moralischen Kontinuums macht sich an der engelsgleichen Frau mit dem Kinnstoß fest. Am gegenüberliegenden Ende finden wir einen Sukkubus in einem eng anliegenden Rock, der sich auf einem Sofa räkelt und mit seinen falschen Augenwimpern klimpert, während er die naiven jungen Soldaten belauscht, die hinter ihm drauflos plappern.
Schilder an der Wand kennzeichnen die Station in einer geschmackvollen Groteske, die vor offizieller Glaubwürdigkeit nur so strotzt, als Euston.Waterhouse und die meisten anderen Leute steigen aus. Nachdem er ungefähr fünfzehn Minuten auf dem Bahnhofsgelände herumgeirrt ist, sich nach dem Weg erkundigt und Fahrpläne enträtselt hat, findet sich Waterhouse schließlich in einem Zug nach Birmingham wieder. Dieser Zug, so wird versprochen, hält unterwegs in einem Ort namens Bletchley.
Mit ein Grund für die Verwirrung ist, dass auf dem Gleis nebenan ein weiterer Zug abfahrbereit steht, der direkt und ohne Zwischenstopps nach Bletchley, seinem Endziel, fährt. Sämtliche Fahrgäste dieses Zuges, so scheint es, sind weibliche Wesen in quasimilitärischen Uniformen.
Die RAF-Leute mit den Maschinenpistolen, die an sämtlichen Türen dieses Zuges Wache stehen und Papiere und Pässe prüfen, lassen ihn nicht einsteigen. Waterhouse blickt durch den Gelbfilter der Fenster auf die Bletchley-Mädchen im Zug, die einander in Grüppchen zu vieren oder fünfen gegenübersitzen, ihr Strickzeug aus ihren Taschen holen, Knäuel schottischer Wolle in Kopfschützer und Handschuhe für Konvoi-Mannschaften im Nordatlantik verwandeln und Briefe an ihre Brüder beim Militär und ihre Mütter und Väter zu Hause schreiben. Die RAF-Wachen bleiben an den Türen, bis sie allesamt geschlossen sind und der Zug begonnen hat, sich aus dem Bahnhof zu schieben. Während er an Tempo gewinnt, verwischen sich die Reihen und Reihen strickender, schreibender und plaudernder Mädchen zu etwas, das wahrscheinlich große Ähnlichkeit mit dem hat, was Matrosen und
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