Cut
Locard», sagte ich. Locards Austauschprinzip stellt zutreffend fest, dass jeder, der einen Tatort betritt, sowohl etwas mitnimmt als auch etwas zurücklässt. Es ist eines der fundamentalen Prinzipien der Spurensicherung. «Ich sagees nur ungern, aber der Täter versteht Locard besser als die Polizei von Atlanta. Er ist sehr geschickt, Rauser. Man muss das im Kopf haben, wenn die Spuren gesichert und analysiert werden. Deine Leute müssen wissen, welche Beweise sie sammeln, und dazu gehört eine detaillierte Befragung jeder Person, die den Tatort betreten hat.»
Rauser nickte. «Kapiert», sagte er mit seiner typisch ruhelosen, beinahe kinetischen Energie, die sowohl ansteckend als auch ein bisschen beunruhigend ist. Aber ich wusste, dass er für seine manischen Phasen Tribut zollte, sobald eine Ermittlung abgeschlossen war. Er war dann immer völlig am Ende und fiel jedes Mal in ein so tiefes Loch, dass er es nicht einmal mehr schaffte, das Bett zu verlassen. Er nannte es «die Grippe», und ich hatte schon erlebt, wie er dabei den Boden unter den Füßen verlor. Aus meiner Sicht war es eindeutig eine Depression, aber was ich von seiner seelischen Verfassung hielt, interessierte ihn nicht.
Vom Revier aus rief ich Neil an und gab ihm die Namen der Opfer, die Geburtsdaten und Sozialversicherungsnummern durch. Neil konnte sich auf den Punkt konzentrieren, wenn es darum ging, etwas auszuspionieren. Wir mussten mehr über die Leben dieser vier Menschen wissen und jeden Einzelnen so gründlich durchleuchten, wie der Täter es getan hatte, wir benötigten eine umfassende Einschätzung der Gefahrenlage. Wenn wir die Opfer verstehen, verstehen wir auch den Mörder. Irgendetwas gaben sie ihm. Was? Welchem Trieb geht er nach? Was sagt sein Verhalten über sein Motiv? Was lebt er aus, und in welcher Beziehung steht dieses Verhalten zu den Merkmalen seiner Verbrechen? Wann genau gerieten diese Opfer in Gefahr? Allein die Antwort auf diese Frage würde uns eine Menge Aufschlüsse darüber geben, wie der Täter seine Opfer auswählt, über Auslöser und Motive.
Im Augenwinkel sah ich, wie sich Jefferson Connor, der vierundzwanzigste Polizeichef Atlantas, mit schweren Schritten der Ermittlungszentrale näherte. Chief Connor war in Uniform. Er trug sie immer bei Pressekonferenzen. Ich fragte mich, ob das der Grund für seinen mürrischen Gesichtsausdruck war. Vielleicht lag es auch an dem Etat von zweihundert Millionen Dollar oder den zweitausendvierhundert Beamten, für die er verantwortlich war. Vielleicht lag es daran, dass unter seinen Augen ein Serientäter am Werk war. Ich hatte ihn nie persönlich kennengelernt, aber ich hatte gesehen, dass ihn weder Fragen zu Serienmördern noch zur Korruption innerhalb des Polizeiapparates aus der Ruhe bringen konnten. Außerdem hatte Rauser viel von ihm erzählt. In Washington, D. C., waren sie als uniformierte Polizisten Partner und Freunde gewesen. Beide waren mehr als zwanzig Jahre im Dienst. Connor wollte Karriere machen, Rauser dagegen hatte Beförderungen abgelehnt, um weiter die Arbeit machen zu können, die ihm gefiel. Während Rauser nach Atlanta versetzt worden war, war Connor nach L. A. gegangen und bald zum Polizeichef aufgestiegen. Er hatte Verbindungsstellen zu den Gemeinden und eine Abteilung gegen Korruption eingerichtet, und durch diese Partnerschaft mit der Bevölkerung waren die Mordfälle unter seine Ägide drastisch gesunken. Deshalb war sein Wechsel nach Atlanta von einem denkwürdigen Hype begleitet gewesen; bei der ersten Pressekonferenz hatte er neben dem strahlenden Bürgermeister vor unzähligen Medienvertretern gesessen.
Connor war über eins neunzig groß, hatte breite Schultern, eine mit roten Äderchen überzogene, runde Nase und die rote Gesichtsfarbe eines Mannes, der entweder viel Zeit an der Sonne oder an der Theke verbringt. Ihm dicht auf den Fersen folgte Jeanne Bascom, die offizielle Sprecherin der Polizeivon Atlanta. Bascom leitete die täglichen Pressebesprechungen, gab Ermittlungsberichte heraus, leistete Schadensbegrenzung und geriet laut Rauser jeden Tag von allen Seiten unter Beschuss. Sie war nicht nur der Sündenbock für die Medien, sie war auch die Person, die Anrufe der Familien von Opfern entgegennahm und die für den Polizeichef und den Bürgermeister jeden öffentlichen Fauxpas ausbügelte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was jemanden an einer solchen Position reizte.
Der Polizeichef grüßte die umhereilenden Beamten im Raum
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