Cut
Vitrinen, denen man nur widerstehen konnte, wenn man aus Eisen war. «Ich spendiere uns Kuchen. Komm schon. Das muntert uns beide auf.»
Neben Rauser ist Neil einer der Menschen, mit denen ich am liebsten gemeinsam esse. Er isst für sein Leben gern. Das macht das viele Kiffen.
Ich sah, wie er sich rührte. «Kirschkuchen?»
«Wie du willst», sagte ich und nahm meine Schlüssel. «Ich dachte eher an Schokokuchen oder Käsekuchen mit süßen Kartoffeln.»
Neil runzelte die Stirn. «Käsekuchen mit süßen Kartoffeln ist totale Verschwendung. Dann könnte man gleich Erdnussbutter draufschmieren. Käsekuchen verdient etwas Besseres.»
«Richtig», sagte ich. Letzte Woche hatte ich ihn vor dem Kühlschrank stehen und kalte Würstchen in Senf tauchen sehen, aber das erwähnte ich jetzt lieber nicht.
10
D ie Ermittlungszentrale war improvisiert, aber gut organisiert. Man hatte sie hastig eingerichtet, nachdem auf Basis der Daten des FBI eine Verbindung zwischen den vier Morden festgestellt worden war. Die Art der Wunden, die Spuren der Waffen und die Manipulation der Tatorte ließen dieselbe Handschrift erkennen, denselben Mörder, dasselbe Messer. Dieser Täter war kein Opportunist wie Gary Hilton und auch keiner, der seine Opfer wie Wayne Williams nach streng definiertem Muster wie etwa einer ethnischen Gruppe oder Altersklasse aussuchte, sodass man mögliche weitere Opfer hätte schützen können. Dieser Täter war anders. Eine solche Mordserie hatte Atlanta noch nie erlebt.
Ich stand an der Tür und wurde nur von ein paar bekannten Gesichtern wahrgenommen, die mir zunickten. Rauser hatte mir den Rücken zugekehrt und beendete gerade ein Telefongespräch. Der lange Tisch vor ihm war mit Papieren übersät. Eine riesige Tafel war mit nummerierten und datierten Fotos von Tatorten und Autopsien bedeckt. Auf Karten von Georgia und Florida waren die Tatorte mit Stecknadeln markiert. Eine andere Tafel war den Spuren, Zeugen, Aussagen und Berichten gewidmet. An einer dritten hingen Schnappschüsse aus dem Leben der Opfer. Elicia Richardson mit einem Wender vor einem Grill im Freien und schüchtern in die Kamera lächelnd. Bob Shelby in Shorts, ohne Hemd und von der Sonnegebräunt, die Füße auf einem Couchtisch und ein Bier in der Hand. Lei Koto neben ihrem Sohn Tim mit Schwimmtrophäe. Alle lachend, spielend und lebendig. Auch beim FBI hatten wir solche Familienfotos aufgehängt, um uns daran zu erinnern, dass diese Menschen nicht immer Opfer gewesen waren, sondern Leute wie wir, die Kinder zurückließen und Freunde und trauernde Eltern und Liebhaber und gelähmte Ehemänner und halbbepflanzte Beete, halbgeschriebene Papiere, die Einkäufe noch im Beutel, das Essen auf dem Herd. Rauser hatte mir erzählt, dass er hier praktisch wohnte. Er wollte ständig von den Informationen umgeben sein. Vielleicht würden sie nach einer Weile in ihn hineinsickern und einen Sinn ergeben.
Heute wirkte das Revier wie unter Belagerung. Von hohen Stellen in der Regierung wurde immenser Druck ausgeübt. In der Zentrale herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, Beamte, schon stöhnend wegen der Arbeitslast, drängten sich an mir vorbei, tranken aus Styroporbechern, hängten Berichte auf, tippten in Tastaturen oder riefen sich Ideen zu. Einer heftete ein Schild über die Tafeln, auf dem WUNSCHKNOCHEN-MORDE stand, und für einen Moment blieb jeder im Raum still stehen. In die brutale Realität mischte sich das seltsame Gefühl, dass hier Geschichte gemacht wurde und sich eine schreckliche Legende bildete.
«Oje», brummte Rauser.
Ich zog einen Stuhl vom Konferenztisch und setzte mich neben ihn.
«Fangen wir mit der Arbeit an, ja?», sagte ich.
Rauser sah mich lange an. Dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. «Hört mal her, Leute», sagte er laut, und Ruhe kehrte ein. Ein paar Beamte verließen ihre Kojen und steckten den Kopf herein. «Für diejenigen, die es noch nichtwissen, dies ist Keye Street, eine erfahrene Kriminologin, und das bedeutet, sie ist darin ausgebildet, Spuren und Beweismaterial zu interpretieren. Keye stößt als Beraterin zu unserer Ermittlungsgruppe, also seid nett zu ihr, gebt ihr bitte alle Informationen, die sie braucht, und gebt ihr auch von euren Donuts ab.»
Er setzte sich wieder hin, und wir machten uns an die Arbeit. Ich verbrachte den Nachmittag in Rausers Zentrale. Meine Notizen füllten schnell ein paar Spiralblöcke. Ich schrieb und zeichnete auf, was mir in den Sinn kam, so hatte ich
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