Cut
immer gearbeitet. Das Wichtigste war, in diesem Stadium jeden Gedanken zuzulassen und das Geschriebene erst später in eine Form zu bringen. Es ging darum, eine Basis für eine einleuchtende Einschätzung zu legen. Instinkt und Erfahrung wirken nur im Einklang miteinander, hatte mir ein Ausbilder in Quantico einmal gesagt, man durfte dem einen nicht ohne das andere trauen.
«Ich suche die Aussagen von den ersten Beamten, die am Tatort waren, oder von den Notärzten und Sanitätern», sagte ich zu Rauser, während ich mich durch die Papierberge auf dem Konferenztisch wühlte. Allmählich taten mir wegen des Schlafmangels alle Knochen weh. Mir war schleierhaft, wie sich Rauser überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.
Er sah mich an. «Ich habe dir alle Berichte gegeben. In Jacksonsville wurden keine Befragungen durchgeführt.»
Ich zeigte auf eines der Fotos, das an die Tafel gepinnt war. Neben der Leiche von Bob Shelby lag ein umgekippter Couchtisch. Ich schaute mir das andere Foto an, auf dem er lebendig mit Bier und Baseballkappe auf derselben Couch saß. Auch der Couchtisch war derselbe, nur dass er in der Tatortszene ein Stück vom Sofa weggeschoben war. Das ganze Zimmer war durcheinander, die Abdrücke auf dem Teppich ließenerkennen, dass die Möbel nicht an ihrer ursprünglichen Stelle standen. Auf dem Boden waren Essensreste verteilt, blutige Fußspuren führten vom Opfer, das bäuchlings in einer Blutlache lag, zur Haustür und wieder zurück ins Haus hinein. Die Leiche war völlig nackt und wies Schwellungen an den Oberarmen auf, Schnittwunden in der blassen Haut des unteren Rückenbereichs, des Gesäßes und der Oberschenkel, dazu Bissspuren.
«Wenn du diese Szene rekonstruieren müsstest, was würdest du sagen?», fragte ich.
«Dass der Typ auf Taco Bell stand?»
«Sehr witzig.»
Rauser musste nicht lange überlegen. Er hatte sich diese Fotos schon tausendmal angeschaut, die Akten wieder und wieder gelesen und bestimmt seine eigenen Schlüsse gezogen. «Bob Shelby», sagte er. «Vierundsechzig. Kaum Wunden, die auf eine Verteidigung hindeuten. Quetschung am Hinterkopf. Ein paar Essensreste, die Möbel umgekippt. Schwellungen an den Oberarmen des Opfers. Fesselspuren an den Handgelenken. Blutlache am Boden. Abdrücke auf Möbeln und Teppich. Der Mörder hat ihn bewusstlos geschlagen, ungefähr zwanzigmal auf ihn eingestochen, als er noch atmete, und weitere dreiunddreißig Male, nachdem er tot war, dann hat er ihm die Kehle aufgeschlitzt, ist ins Blut getreten und hat uns einen Abdruck der Schuhgröße zehn hinterlassen.»
«War zuerst ein männlicher Beamter am Tatort?», fragte ich. Rauser nickte. «Weißt du, was er beim Eintreffen getan hat?»
«Er ist nach den Richtlinien vorgegangen, hat seine Vorgesetzten informiert und den Tatort gesichert.»
«Ist er ins Blut getreten? Weißt du, welche Schuhgröße er hat und was für Schuhe er trug? Weißt du, ob die Rettungssanitäterdie Möbel verrückt und das Essen umgekippt haben?» Mit meinem Stift zeigte ich auf die betreffenden Details auf den Fotos. «Die Leiche liegt hier vor dem Sofa. Kann es sein, dass die Mediziner den Tisch weggeschoben haben, um Platz zu haben, oder ist der Mörder dafür verantwortlich? Weißt du, welche Schuhgröße die Sanitäter hatten und was für Schuhe sie trugen? Diese Schwellungen am Arm können auch von der Untersuchung stammen, das passiert manchmal. Du musst das mit den Rettungssanitätern klären.»
«Worauf willst du hinaus?», fragte Rauser.
«Also, wenn der Täter sein Opfer überraschend attackiert hat – und die Kopfverletzung durch einen stumpfen Gegenstand sieht danach aus –, dann hat es keinen Kampf gegeben. Das Opfer lag am Boden und war unfähig, sich zu wehren. Verstehst du? Ohne die Aussagen wissen wir nicht, ob wir hier die Interaktion zwischen Täter und Opfer rekonstruieren oder lediglich die Spuren des ersten Beamten und der Sanitäter am Tatort analysieren, und deshalb können wir nicht sicher sein, dass der Mörder Schuhgröße zehn hat.»
Rauser seufzte und machte sich eine Notiz. «Das war nicht unser Fall.»
«Und wo sind die Befragungen zu den Fällen in Atlanta? Bisher habe ich nur schriftliche Berichte von den Leuten gesehen, die als Erstes an den Tatorten waren, und die sind äußerst mager. Du kennst das. Diese Leute werden erst genauer, wenn man sie dazu zwingt.»
«Wir kümmern uns um die Beamten und Sanitäter in den Fällen Koto und Richardson.»
«Denk an
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