Cyberabad: Roman (German Edition)
er bis zu dieser Sekunde niemals in Worte gefasst hat.
Seltsames Mädchen, zusammengekauert wie eine schlaksige Zehnjährige auf ihrem Sitz. Er hat ihr Wahrheiten gesagt, die jedes Herz verängstigen würden, und sie hat sie wie philosophische Thesen behandelt. Als wären sie ihr völlig neu. Fremdartig. Warum hat er es ihr gesagt? Um ihre Illusion zu zerstören, oder weil er wusste, wie sie reagieren würde? Weil er ihren Gesichtsausdruck sehen wollte, während sie sich bemühte, die Empfindungen ihres Körpers zu verstehen? Er kennt die furchtsame Verblüffung von den Gesichtern der Beachclub-Kids, wenn sie von den Emotionen umgehauen werden, die von der Proteinprozessor-Matrix der Cyberabads zusammengebraut werden. Emotionen, für die ihre Körper weder einen Bedarf noch eine Entsprechung haben, die sie erfahren, aber nicht verstehen können. Fremdartige Emotionen.
Er hat noch viel Arbeit vor sich. Während der schnelle Zug an den leeren, versteppten Reservoirs des reinigenden Narmada vorbeistürzt und in die Nacht jenseits der Dörfer und Städte und verdorrten Wälder hineinrast, traumwandelt Thomas Lull. Ein alter bodenständiger Ausdruck von Lisa Durnau für Visionieren, für ungehindertes Phantasieren, wenn man sich zurücklehnt und die Gedanken bis zu den fernsten Grenzen des Möglichen abschweifen lässt. Diese Arbeit liebt er am meisten, und sie kommt der Art von Spiritualität am nächsten, zu der ein alter Heide wie Thomas Lull imstande ist. Es geht, denkt er, letztlich nur um Spiritualität. Gott ist unser eigener Geist, unser wahres, vorbewusstes Ich. Die Yogis haben es in all den Jahrtausenden völlig richtig erkannt. Die Ausarbeitung einer Idee ist niemals so aufregend wie das Feuer der Erschaffung, der Moment der brennenden Erkenntnis, wenn man urplötzlich über das absolute Wissen verfügt. Er beobachtet Kij, während Ideen durcheinanderpurzeln, zusammenstoßen und zerbrechen und erneut von der intellektuellen Gravitation zusammengezogen werden. Mit der Zeit werden sie zu einer neuen Welt verschmelzen, aber Thomas Lull weiß bereits genug, um sich ihre künftige Natur vorzustellen. Und davor hat er Angst.
Der Zug rast weiter und schiebt eine Bugwelle aus Licht in die Nacht, während er jede Stunde zweihundertachtzig Kilometer Indien verbraucht. Die Erschöpfung ringt mit der intellektuellen Begeisterung und kann sie schließlich bezwingen. Thomas Lull schläft ein. Er wacht erst beim kurzen Halt in Jabalpur auf, als der Zoll von Awadh eine flüchtige Grenzkontrolle durchführt. Zwei Männer mit Schirmmützen schauen Thomas Lull an. Kij schläft weiter, den Kopf in eine Armbeuge gekuschelt. Weißer Mann und westliche Frau. Unantastbare. Thomas Lull döst wieder ein, wacht einmal auf und erschaudert in urtümlicher, kindlicher Freude über das Rattern der Räder unter ihm. Er fällt in einen langen und unbesorgten Schlaf, der durch einen unplanmäßigen Ruck beendet wird, der ihn aus der Bewusstlosigkeit schmerzhaft gegen den Tisch wirft.
Gepäck stürzt aus den Ablagen über den Sitzen. Passagiere in den Gängen werden zu Boden geworfen. Schreie gehen in panisches Geplapper über. Der Shatabdi wird heftig erschüttert und noch einmal. Dann kommt er kreischend und zitternd zum Stehen. Die Stimmen steigern sich und verstummen. Der Zug steht reglos da. In den Lautsprechern knistert es, dann versagen sie ganz. Thomas Lull legt die Hände ans Gesicht und späht aus dem Fenster. Die ländliche Dunkelheit ist undurchdringlich, allumfassend, yonisch. In der Ferne glaubt er, Autoscheinwerfer zu erkennen, wippende Lichter, wie Taschenlampen. Jetzt kommen die Fragen, jeder fragt gleichzeitig, ob alle unversehrt sind, was geschehen ist.
Kij rührt sich murmelnd. Das Beruhigungsmittel ist wirksamer, als Thomas Lull erwartet hat. Jetzt wird er sich einer Wand aus Stimmen bewusst, die durch den Zug heranrückt, zusammen mit dem Gestank von brennendem Polycarbon in den Lüftungsrohren. Mit einer Hand schnappt er sich Kijs Tasche, mit der anderen zieht er sie hoch. Kij blinzelt ihn mit schweren Lidern an.
»Komm schon, Dornröschen. Wir werden hier außerplanmäßig aussteigen.« Er zerrt sie, immer noch halb bewusstlos, in den Mittelgang, packt die Taschen und zieht sie zu den rückwärtigen Schiebetüren. Hinter ihm explodiert das schwarze Panoramafenster in einem Regen aus Glaszucker, als ein Betonbrocken mit einem Schleuderseil hindurchbricht. Er prallt vom Tisch ab und triff eine Frau auf der anderen
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