Cyberabad: Roman (German Edition)
wirft das Gepäck in die Dunkelheit und sich hinterher. Er landet unglücklich, stürzt, rollt sich auf Steinen und Gleisen ab. Kij und der Eisenbahner folgen ihm. Er richtet sich auf und sieht, wie das Innere des Waggons, den sie verlassen haben, in erschreckendem Gelb aufleuchtet. Dann platzen alle Fenster gleichzeitig und versprühen zerkrümeltes Glas.
»Kij!«, ruft Thomas Lull durch den Tumult. Solche Geräusche hat er noch nie zuvor gehört. Schreiende und jammernde Stimmen, chaotisches Gebrüll und verschiedene Sprachen, alles zur Unverständlichkeit zerrissen. Heulende Motoren, ein stetiges Hämmern von Geschossen. Kinder, die in panischer Angst kreischen. Und hinter all dem das saugende, flüssige Röhren des brennenden Zuges, der sich wie ein verdorbener Räucherstab von beiden Enden her verzehrt. So muss es in der Hölle klingen. »Kij!«
Körper bewegen sich überall, überallhin. Thomas Lull hat inzwischen ein Gefühl für die Geographie des Gräuels. Die Menschen flüchten vom Kopfende des Zuges, wo es zu einer Serie von aktinischen Detonationen kommt, als elektrische Schaltungen hochgehen, während gleichzeitig eine Linie aus Menschen in Weiß wie eine Raj-Armee gegen sie vorrückt. Die meisten sind mit Lathis bewaffnet, einige tragen scharfe Hacken, andere Macheten. Eine agrarische Armee. Es gibt mindestens ein Schwert, das hoch über den Horizont der Köpfe erhoben ist. Einige sind nackt, mit weißer Asche bestrichen, Naga-Sadhus. Kriegerpriester. Alle tragen einen roten Fetzen am Leib, die Farbe Shivas. Flammen flackern an den Geschossen. Flaschen, Steine, zertrümmerte Teile des Zuges regnen auf die Passagiere herab, die sich ducken und flüchten, Gepäckbündel hinter sich herschleifend, ohne zu wissen, von wo sie den nächsten Angriff erwarten sollen. Von den Schusswaffen steigt Rauch auf. Der Boden ist übersät mit verlorenem, geplatztem Gepäck, Hemden und Saris und Zahnbürsten, die in den Dreck getrampelt und geschlurft werden. Ein Mann hält sich den blutenden Kopf. Ein Kind sitzt mitten zwischen den hetzenden Füßen, blickt sich verängstigt um, die Wangen vor Tränen glänzend, mit offenem Mund und stumm, da kein Schrei diesem Schrecken Ausdruck verleihen kann. Füße trampeln auf einem Bündel Stoff. Das Bündel zittert, als es von eilenden Schuhen getroffen wird. Knochen knacken. Thomas Lull bemerkt nun ein Ziel der allgemeinen Flucht: fort von den Männern in Weiß, auf eine Reihe niedriger Hütten zu, die sichtbar geworden ist, nachdem sich die Augen an das Dunkel des ländlichen Bharat gewöhnt haben. Ein Dorf. Eine Zuflucht. Nur dass eine zweite Welle von Karsevaks hinter dem brennenden Ende des Zuges hervorkommt und den Opfern den Weg abschneidet. Die Stampede stockt. Die Menschen sind eingekesselt. Sie gehen zu Boden, häufen sich übereinander. Der Lärm verstärkt sich.
»Kij!«
Dann ist sie vor ihm, als wäre sie aus dem Boden gewachsen. Sie kämmt sich Glaskrümel aus dem Haar.
»Professor Lull.«
Er greift nach ihrer Hand, zerrt sie zurück zum Zug.
»Auf dieser Seite des Zuges kommen wir nicht weiter. Wir gehen in die andere Richtung.«
Die zwei Reihen der Angreifer treffen sich und schließen einen Halbkreis. Thomas Lull weiß, dass alles in dieser Arena dem Tod geweiht ist. Es gibt nur eine kleine Lücke zu den dunklen, ausgedörrten Feldern. Die Familien fliehen dorthin, lassen alles fallen und laufen um ihr Leben. Asche wirbelt auf und weht im Aufwind des brennenden Zuges. Lull und Kij sind nun in Geschossreichweite. Steine und Flaschen schlagen gegen die Waggons und zersplittern zu gläsernem Schrapnell.
»Unten durch!« Thomas Lull duckt sich unter den Zug. »Pass auf!« Das Fahrgestell ist mit lebensgefährlichen Hoch spannungskabeln und Tonnen voller Hydraulikflüssigkeit unter hohem Druck gespickt. Thomas Lull kriecht weiter und sieht sich einer Wand aus Autoscheinwerfern gegenüber. »Mist.« Die Fahrzeuge stehen in einer langen Reihe hundert Meter vom Zug entfernt. Laster, Busse, Pick-ups, Familienkarossen, Phatphats. »Wir sind eingekreist. Wir werden es einfach versuchen müssen.«
Kij wirft den Kopf in den Nacken.
»Sie sind da.«
Thomas Lull dreht sich um und sieht die Hubschrauber über der Lok des Zuges wummern, schnell, rücksichtslos und tief genug, um die Flammen zu einem Feuertornado aufzuwirbeln. Es sind blinde Insekten, und Kampfroboter hängen wie Eier an ihrem Libellenthorax. Sie tragen das Grün und Orange des Yin-Yang von Awadh auf
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