Cyberabad: Roman (German Edition)
kultiviert, äußerst zivilisiert, ekstatisch und mystisch. Sein Glaube ist nicht mit Leuchtfarben angemalt. Er wedelt nicht in der Öffentlichkeit mit dem Penis herum. Trotzdem steigen jeden Morgen Tausende unter den Balkonen seines Haveli die Stufen der Ghats hinunter, um sich im verdorrten Strom des Ganges ihre Sünden abzuwaschen. Witwen geben ihre letzten Rupien aus, damit ihre Ehemänner am heiligen Wasser verbrannt werden und ins Paradies eintreten. Jedes Jahr stürzen junge Männer unter den Jagannath von Puri und werden zerquetscht – auch wenn es nicht annähernd so viele sind, wie der rollenden Prozession der Rushhour von Puri zum Opfer fallen. Armeen von Jugendlichen stürmen Moscheen und legen sie mit bloßen Händen in Trümmer, weil sie Lord Rama entehren, und immer noch sitzt dieser Mann am Straßenrand und hält den Arm wie einen Stab erhoben. Und in einem Kreisverkehr in Sarnath steht eine verschmutzte Betonstatue von Hanuman, die keine zehn Jahre alt ist und von der es heißt, dass sie versetzt werden muss, um Platz für eine neue Metrostation zu machen. Und schon tauchen Horden von jungen Männern in weißen Hemden und Dhotis auf, die in die Luft boxen und Trommeln und Gongs schlagen. Es wird Tote geben, denkt Shaheen Badoor Khan. Kleine Dinge, die lawinenartig anwachsen. N. K. Jivanjee und seine radikale hinduistische Shivaji-Partei werden den Prozessionswagen dieses Jagannath bis zum Tod vorantreiben.
Im VIP -Empfangszentrum kommt es zu weiteren Verwirrungen. Offenbar wurden zwei äußerst wichtige Gruppen gleichzeitig für die Businessclass von Flug BH 137 gebucht. Das Erste, was Shaheen Badoor Khan davon bemerkt, ist ein Gerangel aus Reportern und Mikrofonen an Galgen und im freien Flug vor der VIP -Lounge. Minister Srinavas wirft sich in Pose, aber die Linsen schauen in eine andere Richtung. Shaheen Badoor Khan kämpft sich höflich durch die Menge, den Ausweis hoch erhoben, bis er den Flugdienstberater erreicht hat.
»Was für ein Problem gibt es hier?«
»Ah, Mr. Khan, hier scheint es zu einer Verwechslung gekommen zu sein.«
»Es gibt keine Verwechslung. Minister Srinavas und seine Begleiter kehren mit diesem Flug nach Varanasi zurück. Was ist der Grund für das Durcheinander?«
»Eine prominente Persönlichkeit ...«
»Prominent!« Shaheen Badoor Khan spricht es mit einer Verachtung aus, die eine komplette Ernte verdorren lassen könnte.
»Ein russisches Model«, sagt der Flugdienstberater leicht nervös. »Ein ganz großer Name. Es geht um irgendeine Show in Varanasi. Ich bitte um Verzeihung für die Verwechslung, Mr. Khan.«
Shaheen Badoor Khan winkt bereits seine Leute durch das Gate.
»Wer?«, fragt Minister Srinavas, als er sich am Gedränge vorbeischiebt.
»Irgendein russisches Model«, antwortet Shaheen Badoor Khan mit seiner sanften, präzisen Stimme.
»Ah!«, sagt Minister Srinavas und reißt die Augen auf. »Yuli.«
»Wie bitte?«
»Yuli«, wiederholt Srinavas und reckt den Hals. »Das Neut.«
Das Wort klingt wie der Schlag einer Tempelglocke. Die Menge teilt sich. Shaheen Badoor Khan hat nun einen klaren und ungehinderten Blick in die VIP -Lounge. Und er ist wie gebannt. Er sieht eine große Gestalt in einem langen, schön geschnittenen Mantel aus weißem Brokat. Der Stoff ist mit Mustern aus tanzenden Kranichen bestickt, die ihre Schnäbel ineinander verschlingen. Die Gestalt hat ihm den Rücken zugekehrt, so dass Shaheen Badoor Khan kein Gesicht erkennen kann. Aber er sieht die geschwungenen Linien aus blasser Haut und die langen Hände, die sich zierlich bewegen, einen elegant geschwungenen Nacken, die glatte und perfekte Rundung der haarlosen Kopfhaut.
Die Gestalt dreht sich zu ihm um. Shaheen Badoor Khan sieht ein Kinn, einen Wangenknochen. Ein leises Keuchen entfährt ihm, unhörbar im Tumult des Pressekorps. Das Gesicht. Er darf nicht auf das Gesicht schauen, weil er sonst verloren, verdammt, versteinert wäre. Die Menge verschiebt sich erneut, und menschliche Körper versperren ihm den Blick. Shaheen Badoor Khan steht wie gelähmt da.
»Khan.« Eine Stimme. Sein Minister. »Khan, alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Äh, ja, Herr Minister. Mir ist nur ein wenig schwindlig. Die Luftfeuchtigkeit.«
»Ja, diese verdammten Banglas sollten dringend ihre Klimaanlagen auf Vordermann bringen.«
Der Bann ist gebrochen, doch als Shaheen Badoor Khan seinen Minister den Flugsteig entlangführt, ist ihm klar, dass er nie wieder Frieden finden wird.
Der
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