Cyberabad: Roman (German Edition)
die halb nackt und Arm in Arm über den staubigen, verdorrten Rasen ziehen. Hier gibt es nur jede Menge Wachschutz, ein paar Dozenten auf großen klobigen Fahrrädern ohne Licht, das Scheppern eines einsamen Nacht-Radios und der Eindruck, dass über die verschlossenen Institutsgebäude und die Studentenwohnheime eine Ausgangssperre verhängt wurde.
Der Fahrer hält auf das einzige Licht zu. Die Experimentalphysik ist ein orchideenähnliches Gebäude aus leuchtenden Plastikflächen und Pylonen, die gewagt und zart aufragen. Der Name auf dem Marmorsockel lautet RANJIT RAY CENTRE FOR HIGH ENERGY PHYSICS. Unter der zierlichen, blumigen Architektur ist ein einfacher Pulslaser-Teilchenbeschleuniger begraben.
»Er scheint ein Mann mit vielen Talenten gewesen zu sein, mein Vater«, sagt Vishram, als der Nachtwächter sie durch die Lobby nickt. Sein Gesicht ist jetzt allgemein bekannt.
»Er ist nicht gestorben«, sagt Sonia Yadav, und Vishram zuckt zusammen.
Ein Aufzug am Ende der Lobby bringt sie durch eine Röhre nach unten zum Haupt der Bestie. Es ist in der Tat ein mythisches Wesen, ein weltverschlingender Wurm, der sich in einer Schleife unter Sarnath und dem Ganges zusammengerollt hat. Vishram blickt durch das Beobachtungsfenster auf elektrische Geräte in der Größe von Schiffsmaschinen und versucht sich Teilchen vorzustellen, die zu seltsamen und unnatürlichen Beziehungen gezwungen werden.
»Wenn wir es auf volle Kraft hochfahren und einen Spalt öffnen würden, wäre das Feld dieser Eindämmungsmagneten stark genug, um Ihnen das Hämoglobin aus dem Blut zu saugen«, sagt Sonia Yadav.
»Woher wissen Sie das?«, fragt Vishram.
»Wir haben es mit einer Ziege ausprobiert, wenn Sie es genau wissen wollen. Kommen Sie weiter.«
Sonia Yadav führt ihn eine lange Betontreppe hinunter bis zu einer Luftschleusentür. Das Sicherheitspanel scannt ihre Augäpfel und öffnet die Luftschleuse.
»Gehen wir in den Weltraum oder was?«, fragt Vishram, als sich das Schott verriegelt.
»Das ist nur eine Eindämmungsvorrichtung.«
Vishram beschließt, gar nicht wissen zu wollen, was hier eingedämmt werden soll. Also lenkt er ab. »Ich weiß, dass mein Vater reich ist – reich war – und dass sich die Reichen Privatjets oder Privatinseln kaufen, aber ein Reicher, der sich einen Privatteilchenbeschleuniger leistet ...«
»Es gibt noch weitere Geldgeber«, sagt Sonia Yadav. Das innere Schleusentor schwenkt auf, und sie treten in ein unspektakuläres Betonbüro mit schmerzhaft hellem Neonlicht und flackernden Flachbildschirmen. Ein junger bärtiger Mann schaukelt auf einem Stuhl vor und zurück, die Füße auf dem Schreibtisch, während er die Abendzeitung liest. Vor ihm stehen eine Industriethermoskanne mit Chai und ein Styroporbecher. Der Computer dröhnt traditionellen Bhangra von einem bengalischen Sender. Der Mann springt auf, als er seine spätabendlichen Besucher bemerkt.
»Sonia, tut mir leid, ich wusste nicht ...«
»Deba, das ist ...«
»Ich weiß. Herzlich willkommen, Mr. Ray.« Er schüttelt ihm mit übertriebener Begeisterung die Hand. »Sie sind also hier heruntergekommen, um sich unser kleines Privatuniversum anzusehen?« Hinter einer zweiten Tür befindet sich ein winziges Betonzimmer, in das sich die Besucher wie die Segmente einer Orange einfügen. Auf Vishrams Kopfhöhe ist eine dicke Glasscheibe in die Wand eingelassen. Er blinzelt, kann aber nichts erkennen. »Eigentlich brauchen wir nur Zahlen, aber manche Leute verspüren das atavistische Bedürfnis, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen«, sagt Deba. Er hat seinen Chai mitgenommen und nimmt einen Schluck. »Gut, wir befinden uns hier im Beobachtungsbereich neben der Eindämmungskammer, die wir mit typischem Physikerhumor als Gefängniszelle bezeichnen. Im Prinzip ist es ein modifizierter Tokamak-Torus. Sagt Ihnen das etwas? Nein? Stellen Sie es sich als invertierten Donut vor. Er hat eine Außenseite, aber innen herrscht das extremste Vakuum, das sich erzeugen lässt. Es ist wirklich sehr extrem, denn da drinnen existieren nur noch Raumzeit und Quantenfluktuation. Und das hier.«
Er schaltet das Licht aus. Vishram ist für einen Moment blind, dann nimmt er ein stärker werdendes Leuchten hinter dem Fenster wahr. Er erinnert sich an eine Physikstudentin, die er einmal mit nach Hause genommen hat und die ihm erzählte, dass die Retina tatsächlich ein einzelnes Photon bemerken kann, was bedeutet, dass das menschliche Auge im Quantenbereich sehen kann.
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