Cyberabad: Roman (German Edition)
ich diese Szene mit der Brotstange im Remake von Pyar Diwana Hota Hai gesehen.«
»Also noch etwas Wein?«
Sie lässt nachfüllen, rührt das Glas aber nicht an. Eine weise Frau. Vishram lehnt sich mit dem traumatisierten Chianti zurück – das uralte Ritual eines Mannes, der einer Frau beim Erzählen einer Geschichte zuhört.
Es ist eine seltsame und magische Geschichte voller Widersprüche und Unmöglichkeiten, ähnlich wie die Legenden aus dem Mahabharata. Es geht um multiple Welten und Entitäten, die gleichzeitig gegensätzliche Eigenschaften besitzen. Es geht um Wesenheiten, die sich niemals vollständig erkennen oder vorhersagen lassen, die nach der Trennung miteinander verknüpft bleiben, selbst wenn man sie an entgegengesetzte Enden des Universums versetzt, so dass die eine ohne Zeitverzögerung spürt, was mit der anderen geschieht. Vishram beobachtet Sonias Demonstration des Doppelspaltexperiments mit einer Gabel, zwei Kapern und Wellen im Tischtuch und staunt, in was für einer seltsamen und fremdartigen Welt diese Frau lebt. Das Quantenuniversum ist so unberechenbar und unbestimmbar wie die dreifache Welt, die auf dem Rücken der großen Schildkröte ruht und von Göttern und Dämonen beherrscht wird.
»Wegen des Unschärfeprinzips kommt es ständig vor, dass virtuelle Teilchenpaare auf allen möglichen Energielevels geboren werden und wieder vergehen. Also enthält jeder Kubikzentimeter des leeren Raums theoretisch eine unendlich große Energiemenge. Das Problem ist nur, die virtuellen Teilchen daran zu hindern, wieder zu verschwinden.«
»Ich muss Ihnen gestehen, dass dieser Geisteswissenschaftler kein einziges Wort versteht.«
»Niemand versteht es wirklich. Zumindest nicht so, wie wir ›verstehen‹ verstehen. Wir haben lediglich eine Beschreibung, wie es funktioniert, und es funktioniert besser als jede andere Theorie, die wir jemals entwickelt haben, und zwar einschließlich der M-Stern-Theorie. Es ist wie mit dem Geist Brahmas. Niemand kann die Gedanken eines Schöpfergottes verstehen, aber das bedeutet nicht, dass es keine Schöpfung gibt.«
»Für eine Wissenschaftlerin benutzen Sie ungewöhnlich viele religiöse Metaphern.«
»Diese Wissenschaftlerin glaubt, dass wir in einem hinduistischen Universum leben«, bekräftigt Sonia Yadav. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht wie diese christlich-fundamentalistischen Kreationisten. Das ist keine Wissenschaft, weil sie den Empirismus und die Tatsache leugnet, dass sich das Universum mit dem Verstand erfassen lässt. Kreationisten passen die empirischen Beweise an, damit sie ihrer speziellen Interpretion der Schriften entsprechen. Ich glaube das, was ich glaube, weil ich es empirisch beweisen kann. Ich bin eine rationale Hindu. Ich sage nicht, dass ich an tatsächliche Götter glaube, aber die Quanteninformatik und die M-Stern-Theorie gehen davon aus, dass alles miteinander verbunden ist und dass Eigenschaften entstehen können, die sich nicht anhand der konstituierenden Elemente vorhersagen lassen, und dass die sehr großen und die sehr kleinen Dinge nur zwei Seiten desselben Superstrings sind. Muss ich einem Ray etwas über hinduistische Philosophie erzählen?«
»Diesem Ray vielleicht. Also werden Sie N. K. Jivanjee nicht auf seiner Yatha Ratra durch die Gegend ziehen.« Er hat die Fotos in den Abendnachrichten gesehen. Ein echter Knüller.
»Ich werde nicht ziehen, aber vielleicht bin ich unter den Zuschauern. Außerdem ist das Ding sowieso mit einem Ökodiesel ausgestattet.«
Vishram lehnt sich wieder zurück und zupft an seiner Unterlippe, wie er es immer tut, wenn in seinem Kopf Beobachtungen und Formulierungen herumflattern und sich krächzend zu einer Comedynummer verbinden.
»Dann klären Sie mich auf. Sie haben kein Bindi, und Sie gehen ohne Gouvernante aus. Wie passt das alles zu N. K. Jinvanjee und dem Geist Brahmas?«
Sonia Yadav hat wieder diese kleinen Falten. »Ich werde es einfach und geradeheraus sagen. Jati und Varna haben unsere Nation dreitausend Jahre lang umnachtet. Die Kaste war nie eine drawidische Idee – das waren diese Arier mit ihrer Obsession des Teilens und Herrschens. Deshalb haben die Briten dieses Land so geliebt – sie sind immer noch von allem fasziniert, was mit Indien zu tun hat. Die Klassentrennung ist Teil ihres nationalen Narrativs.«
»Nicht in dem Großbritannien, das ich erlebt habe«, bemerkt Vishram.
»Für mich geht es bei N. K. Jivanjee um Nationalstolz, um Bharat für
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