CyberCrime
während des Verhörs habe einer der Ermittler ihm die Möglichkeit angeboten, an einem Zeugenschutzprogramm teilzunehmen. Im Gegenzug sollte er in der Ergenekon-Ermittlung aussagen. Sie verlangten, er solle gestehen, dass er für die Verschwörung des Tiefen Staates bei Militär, Geheimdiensten und Medien ein geheimes Cybernetzwerk aufgebaut habe. Die Polizei bestreitet ein solches Angebot rundheraus.
Cha 0 lehnte ab. Es ging ihm wie Inspektor Şen: In dem Streit zwischen Tiefem Staat und Regierung unter die Räder zu kommen war das Letzte, was er wollte. Im Cyberspace laufen die Dinge anders.
Während unserer Unterhaltung lässt Çağatay immer wieder durchblicken, er und eine kleine Gruppe von Hackern wüssten weit besser, was auf der dunklen Seite des Web vorgeht, als irgendjemand bei den Behörden. Er deutet an, er habe nur beweisen wollen, wie hoffnungslos alle Anstrengungen der Ordnungskräfte seien, das Internet zu überwachen – nach seiner Auffassung wird es immer Menschen wie ihn geben, die den anderen einen Schritt voraus sind.
Interessanterweise scheint ihn seine Haftstrafe ebenso wenig zu stören wie die Tatsache, dass er noch 22 Jahre aufgrund seiner Verurteilung aus dem Jahr 2000 absitzen muss, ganz zu schweigen von weiteren Anklagen, die vielleicht aufgrund seiner Tätigkeit auf DarkMarket noch gegen ihn erhoben werden.
Als wir auf das Thema FBI und Keith Mularski zu sprechen kommen, macht sich auf seinem Gesicht langsam ein müder Ausdruck breit. »Das FBI hat nichts gegen mich in der Hand. Wenn sie etwas hätten, warum hat dann Master Splyntr keine Informationen weitergegeben, mit deren Hilfe die türkische Polizei Anklage gegen mich erheben könnte?«, fragt er. »Stattdessen fällt ihnen nichts Besseres ein, als diesen kleinen Niemand Ortaç zu benutzen, um mich in die Falle zu locken.« Dann behauptet Çağatay, er habe Mularskis Datenbank gehackt und sämtliche Informationen herausgeholt, die das FBI über alle Mitglieder von DarkMarket einschließlich seiner selbst gesammelt hatte.
Da Çağatay im Gefängnis sitzt, kann er seine Behauptungen natürlich nicht belegen. Angeblich wusste er von Anfang an, dass das FBI hinter Splyntr steckte. (Allerdings kam Çağatay erst im Februar 2006, als Master Splyntr in dem Forum bereits gut etabliert war, auf JiLsis Einladung zu DarkMarket.) Es sei seine Strategie gewesen, »meine Freunde in meiner Nähe und meine Feinde noch näher zu halten« – daher auch seine Bereitschaft, mit Splyntr als Administrator zusammenzuarbeiten.
Es ist für den Abschluss ein geeignetes Thema. Letztlich geht es in der Geschichte von DarkMarket um zwei Männer – Çağatay Evyapan und Keith Mularski –, die beide durch fähige Mitarbeiter und Kontaktleute unterstützt wurden. Cha 0 war kein gewöhnlicher Verbrecher. Geld zu machen war zwar der Hauptzweck des Unternehmens, Çağatay maß aber dem Kampf zwischen ihm selbst und den Polizeibehörden anscheinend eine tiefere Bedeutung bei; es war fast, als wollte er seine überlegenen Fähigkeiten und damit unausgesprochen auch die Nutzlosigkeit aller polizeilichen Versuche, den Cyberspace zu überwachen, unter Beweis stellen. Darin liegt ein starkes Element des ursprünglichen Anarchismus der Computerfreak-Kultur – wenn wir vom Realen zum Virtuellen übergehen, ändern sich Verhaltensmuster und Moralkodex. Es herrschen neue, andere Spielregeln.
Am Ende blieb der FBI -Agent Sieger, aber es war ein knapper und keineswegs vollständiger Sieg. Drei Jahre nach der Schließung von DarkMarket hallt das Echo dieses außergewöhnlichen verbrecherischen Unternehmens in den Gefängnissen und Gerichtssälen in mehreren Regionen der Welt immer noch wider. Und natürlich sind viele Mitglieder von DarkMarket nach wie vor im Cyberspace unterwegs.
Das Internet ist eine metaphysische Erfindung, die in jeden Teil unseres Lebens und jedes Zimmer unserer Wohnungen eingedrungen ist. Aber Vorsicht – Lord Cyric lauert vielleicht immer noch irgendwo in einem virtuellen Schrank.
Epilog
Auf den ersten Blick sah es so aus, als habe das Verbrechen im Internet mit dem Verschwinden von DarkMarket einen schweren Schlag erlitten. Aber das war nicht der Fall. Die Arbeit einiger wichtiger Carder-Netzwerke geriet allerdings vorübergehend ins Stocken, darunter das Geschäft von Cha 0 in der Türkei, von Maksik in der Ukraine und von Freddybb in England. Andere Cyber-Schwerkriminelle jedoch zogen aus der ganzen Affäre eine einfache Lehre: Sich an
Weitere Kostenlose Bücher