Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
als sechzig Jahren eine Mischung aus erstaunlichen Nackenschlägen, die sich abwechseln mit beruhigenden Streicheleinheiten. Der Rhythmus erschließt sich mir nicht, vielleicht ist es tatsächlich eine Abfolge von sieben guten und sieben schlechten Jahren.
Wenn es dunkel ist, kann alles schiefgehen. Im Kopf. Mit so einer Reise. Mit dem Leben. Mit der Zukunft. Gestern beim Wein mit Freunden erzählten sie von einer Verwandten, die auf einem Parkplatz vor dem Supermarkt aus dem Auto stieg, den Einkaufszettel in der Hand. Wenige Sekunden später konnte sie nicht mehr sprechen, keinen Satz, kein einziges Wort, nicht mal ein »Hilfe« brachte sie zustande. Der Tumor in ihrem Kopf, von dem sie nichts ahnte, weil sie nichts spürte, hatte das Sprachzentrum erreicht.
Was wäre, wenn? Wenn es mir morgen beim Delfingucken am Strand so ginge wie der Frau auf dem Parkplatz?
Angekommen am Ferienort mit dem undeutlichen Gefühl, nie weg gewesen zu sein. Über das Phänomen Zeit haben sich klügere Leute den Kopf zerbrochen. Ich stehe nur erstaunt vor der Tatsache, dass zwölf vergangene Monate woanders ein Nichts sind, wenn sie beim Anblick von Vertrautem so schnell aus dem Gedächtnis zu tilgen sind: die Dünen, der Strand, der Rotwein in der Kneipe an den Gleisen der stillgelegten Eisenbahnstrecke.
Und wenn das mit dem Leben tatsächlich so schnell geht, bin ich in gefühlten sechs Monaten achtzig. Und dann?
Beim Strandlaufen fange ich an, Steine zu sammeln. Nicht irgendwelche, sondern die mit den geometrischen Linien und den klaren Farben, dunkelrotbraungelb. Und schon hat mich die Frage nach dem Wann-woher-wohin am Wickel. Wie alt ist so ein kleiner Kiesel? Wo kommt er her, was würde er preisgeben, könnte man die Botschaft seiner Zeichnung entziffern?
In hundert Jahren wird ihn irgendein anderer Mensch in der Hand halten.
Am Strand hockt ein Kormoran, die Flügel weit ausgebreitet, als habe ihn jemand an ein unsichtbares Kreuz genagelt. Er watschelt Richtung Wasser, als ich näher komme. Ein Vogel, der nicht mehr fliegen kann, von den Wellen wird er hin- und hergeworfen wie eine Gummiente, die in einen Duschstrahl gerät.
Der Kormoran ist noch immer da, steht an Land mit tropfnassem Gefieder, ein jämmerlicher Anblick. Ich frage im Guesthouse nach Hilfe. Verständnisloser Blick.
Mother Nature will do what she has to do. Wie im richtigen Menschenleben auch.
Ich trödele in den Tag, denke, dass ich lange hierbleiben möchte. Und zähle doch schon die Tage bis zur Abreise. Schönes kann ich schwer ertragen.
Wir essen bei den »Girls«. Zwei lesbische Frauen, die vor ein paar Jahren hinter einer Tankstelle in einem Anbau ein Restaurant eröffnet haben. Ein dunkler Schuppen, in dem die Luft steht. Im besten Fall kriegt man einen Fensterplatz, ein kleiner Guckkasten mit Blick auf Zapfsäulen. Öffnen verboten, sonst riecht man das Benzin. Aber das Essen ist erstklassig, der Laden ist jeden Abend gerammelt voll. Die Küche ist ein Glaskasten mitten im Restaurant. Roxanne, die eine Hälfte der Girls, wirbelt auf ein paar Quadratmetern, drei, vier Frauen gehen ihr zur Hand. Die andere Hälfte der Girls, Cherry, weiß nicht mehr, dass sie mal die andere Hälfte war. Für Vorspeisen und Desserts war sie zuständig, das hat sie längst vergessen. Auch wie man sich bewegt, wie man lacht, sich umarmt.
Zwei Jahre nach der Eröffnung der Girls ist sie ausgefallen, jetzt sitzt sie zu Hause. Wartet, dass es dunkel wird und Roxanne nach Hause kommt. Vielleicht weiß sie auch schon nicht mehr, wie Warten geht. Was Warten ist.
Dass Roxanne ihr Girl war.
Der Kormoran ist immer noch da. Leichte Beute für einen alten Hund, der von seinem Besitzer gerade noch zurückgepfiffen wird. Ich wünsche mir insgeheim, er wäre weniger gehorsam gewesen, hätte seinen Instinkten vertraut und zugebissen.
Einladung bei Gerhard, dem Innkeeper.
Der sich sein Stück Paradies am Indischen Ozean von einer Abfindung kaufte, die er bekam, als er keine Lust mehr auf den ganz normalen Alltag hatte, auf das Leben als Angestellter einer Bank in Johannesburg. Lange Jahre gehörte er zu einer kleinen, aber feinen Truppe, die auf besondere Investments spezialisiert war. Beim Millenium-Jahreswechsel war er noch bei der südafrikanischen Task-Force, die um Mitternacht wie gebannt auf die Computer der großen Banken starrte, jederzeit mit dem Zusammenbruch der Systeme rechnend. Irgendwann danach verließ ihn die Lust. Drei
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