Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
nichts mehr ein. Es fühlt sich an, als sei es einem anderen Menschen in einem anderen Leben passiert. Und doch ist dieses Ich-bin-19-Leben irgendwo noch in mir drin, hat im besten Fall eine kleine Prägung, im weniger guten eine mittelmäßige Delle hinterlassen.
Wie wird es sein, falls ich 89 werde? 95?
Wird mir dann mein 65er-Leben vorkommen, als sei es aus der Zeit gefallen?
Jemand hat geschrieben, dass uns das Alter nicht einholt, es kommt uns entgegen. Gefällt mir, diese Form der Annäherung.
Als die beiden Mädchen später auf der Couch einschlafen und wir noch beim Wein bleiben, erzählt Louis, dass er die neunjährige Christie neulich zum Ballettunterricht gebracht hat. Die Tanzlehrerin war neu in der Schule, eine große, sehr attraktive Frau. Als Vater und Tochter den dunklen Gang zur Turnhalle Richtung Unterricht laufen, steht plötzlich die Lehrerin in der Tür. Im Gegenlicht, das auf ihre Locken fällt, wird sie zu einem blonden Engel. Christie fragt ihren Vater, ob er die Frau auch sieht.
Wie kann ich sie nicht sehen, so schön, wie sie ist?
Sie ist Single, Dad, sagt Christie.
An uferlosen Tagen wie diesen wüsste ich gern, was für ein Kind ich war. Wenn ich mit mir allein war. Habe ich mich je gelangweilt? Fühlt sich nicht so an. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. An Langeweile, an Nicht-Wissen, was man tun soll, tun will.
Ich habe kein Gefühl für Langeweile.
Mir wird die Weile nicht lang. Glaube ich.
Ganz sicher bin ich mir nicht.
Es müsste mal einer in einem Restaurant einen Film drehen. Die Handlung wäre ganz simpel:
Paare beobachten. Urlaubspaare. Sie beschließen den Tag mit einem Abendessen im Restaurant. Es gibt nicht viel zu sagen. So sieht es jedenfalls aus. Ein Zeichen von Leere, Überdruss, von Bei-lebendigem-Leibe-in-der-Ehe-Begraben?
Oder Zeichen von stummem Verstehen, von Gleichtakt, von Nicht-mehr-viele-Worte-machen-Müssen? Von leisem Glück?
Essen in der Öffentlichkeit, eine sehr intime Angelegenheit. Mir ist peinlich, wie ich seziere. Wie meine Fantasie mit mir durchgeht, wie ich beobachte, manchmal starre, mithöre.
Ein stiller Teilhaber am Leben der anderen.
Seit zwanzig Tagen gehe ich am Meer entlang und sammele Steine. Es gibt jede Menge Muscheln, aber ich will Steine. Die tiefroten, mit der ockergelben Maserung. Das Gelb malt Phantastisches auf die Steine. Die Umrisse von Afrika. Einen Horizont mit Palmen. Einen Delfin. Ich bin streng in meiner Auswahl, nicht jeder Stein kommt mit.
Als die vielen Steine kurz vor der Abreise auf dem Terrassentisch liegen, ist mir nicht mehr klar, warum es diese sein mussten. Warum ich sie aufgehoben habe, aufbewahren will. Ich spüre vages Unbehagen, den Impuls, sie dem Meer zurückzugeben. Wenn ich sie später in die Glasvase in meinem Badezimmer lege, sind sie dann noch die, die sie waren?
Liegt es an den Ferien, der Ruhe und der Planlosigkeit, dass mir solche Gedanken kommen? Wie lange würde ich das aushalten, was ich seit drei Wochen tue? Dem Meer zuhören, mich in der Ferne verlieren, Zeit im Überfluss haben, sie verprassen, mit vollen Händen ausgeben. Geht das so leicht, weil ich weiß, dass es ein Ende haben wird? Haben muss.
Muss es?
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E s klang so leicht. So unbeschwert. In einer Radiosendung hatte der erfolgreiche Autor auf die Frage, was für ihn Glück bedeute, eine Antwort zur Hand, die perfekt schien. Maßgeschneidert für jedermann. Glücksklamotte in Unisex. Ein Mantel aus Worten, zum Wohlfühlen.
Ich habe es nicht geschafft, mir seine grandiose Glücksdefinition zu merken, sie hat sich verflüchtigt wie ein Champagnerrausch, jenes Glücksseligkeitsgefühl, das sich nach dem zweiten, dritten Glas einstellen kann. Wenn man beinahe selbst schon perlt, vor sich hin blubbert, sich an sich selbst berauscht und sich tief drinnen etwas sachte Richtung Superman ausdehnt, das locker jeden Selbstzweifel in die Ecke drängt. Glücksbesoffen eben.
Ich wünsche Dir viel Glück. Als ob Glück etwas zum Festhalten sein könnte. Was man zu Hause abgepackt ins Medizinschränkchen stellen und bei akutem Unglücklichsein herausholen kann. Täglich dreimal zehn Tropfen nach den Mahlzeiten. Dabei ist Glück schnell verderbliche Ware. Geschätzte Haltbarkeitsdauer zwanzig Sekunden.
Glück, das ist ein Amselmoment. Wenn sie auf dem Dachfirst hockt, wie eine gefeierte Sopranistin in die Runde blickt und jubiliert, was das Zeug hält. Und für einen Augenblick, genau die Länge, die man
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