Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
vorbeiziehen zu lassen. Keine Chance, über jenes Leben zu sprechen, das es schon gab, als an mich noch nicht zu denken war. Ich hatte nie Gelegenheit, meiner Mutter jene Fragen zu stellen, die mich heute sachte umtreiben. Wann hast Du das Altwerden zum ersten Mal deutlich gemerkt? Hat es Dich traurig gemacht? Und wenn ja, warum? Wie sehr musstest Du Dichanstrengen, es zu ignorieren, bevor Du es akzeptiert hast?
Welcher Geburtstag war der schwierige? Der Fünfzigste? Der Sechzigste?
Wonach hast Du Dich in diesem Alter gesehnt?
Wo wolltest Du noch hin mit Deinem Leben?
Was hättest Du mir vom Alter unbedingt erzählen wollen?
Was war gut, was hat Dich überrascht?
Was hat Dir Angst gemacht?
Das Leben oder der Tod?
Wie hast Du Dich gefühlt, als Du älter wurdest?
Ziemlich tot, würde meine Mutter mit der ihr eigenen scharfen Ironie antworten.
Sie wurde gerade mal 64 Jahre alt.
Sie war nicht ganz gesund, sechzig Zigaretten am Tag, und das seit Teenagerzeiten. Der Körper hat es ihr irgendwann heimgezahlt. Wenn wir, ihre Kinder, heute von den letzten Wochen ihres Lebens erzählen, dann können wir auch lachen. Andere Menschen atmen tief ein, wenn sie draußen in der Natur sind, in der frischen Luft, im Wald. Mit Tannennadelaroma hätten wir unserer Mutter keine Freude gemacht.
Für meine Mutter war es ganz offensichtlich eine Erholung, wenn sie in einem jener verglasten Raucherkästen saß, die es damals noch in Krankenhäusern gab. Mitten im dichten Qualm der Mitpatienten steckte sie sich eine Kippe nach der anderen an, dann war sie völlig entspannt, fast glücklich. Der dröhnende, schlimme Husten wurde weniger. Leider nur so lange, bis sie wieder an die frische Luft kam. Die hat sie am Ende ihres Lebens nicht mehr so gut vertragen.
Ich wünschte, ich könnte meiner Mutter noch einmal begegnen. Max Frisch hat in einem seiner Tagebücher eine großartige Frage gestellt: Wenn Sie einem Verstorbenen noch mal begegnen könnten: Möchten Sie, dass er zu Ihnen spricht? Oder möchten Sie ihm lieber etwas sagen?
Ich würde sie reden lassen, sie muss wissen, was mich jetzt umtreibt, sie erinnert sich sicher, wie es war, alt zu werden, auch wenn sie nicht alt geworden ist. 64 ist nicht alt.
Ich erinnere mich gut an den fünfzigsten Geburtstag meiner Mutter. Ich war Mitte zwanzig, fünfzig war weit weg. Dass dieser Geburtstag für sie ein Einschnitt sein könnte, habe ich nicht gewusst, nicht einmal geahnt. Ich wollte besonders smart und witzig sein, hatte in einem Dekorationsgeschäft goldene Lorbeerkränzchen aus Pappmaschee besorgt, in deren Mitte eine stolze Fünfzig thronte. Hätte ich eines von ihnen in die Geburtstagsblumen gesteckt, wäre es vielleicht noch ganz komisch gewesen. Das war mir nicht genug. Ich hatte zwei Dutzend gekauft, habe sie überall im Haus versteckt. Zwischen ihren Kleidern, in ihrem Schreibtisch, bei den Putzsachen, unterm Bett, hinten im Kohlenkeller, in der Gießkanne für den Garten. Monate später, als sie die Sommersachen vom Speicher holte, hat sie noch die goldene Fünfzig gefunden. Es hat sie nicht amüsiert, fürchte ich. Es hat sie traurig gemacht.
Was wäre, könnte ich meinem Vater noch einmal begegnen? Mehr als fünf Jahrzehnte nach seinem Tod habe ich einen immer wiederkehrenden Traum: Nicht er hat mich, ich habe ihn verlassen. Er meldet sich von weit her, bittet mich, ihn zu besuchen, ihn anzurufen, eine Karte zu schreiben, die abgebrochene Verbindungwieder aufzunehmen. Nach all den Jahren sei es jetzt an der Zeit. Eine absurde Verdrehung der Wirklichkeit. Ein Traum eben. Aber einer, der über Tage in meinem Kopf, in meinem System hängen bleibt. Vielleicht, weil die Möglichkeit, dass er tatsächlich noch irgendwo auf mich warten könnte, so ungemein verheißungsvoll ist?
Ich wünschte, er könnte mir sagen, was ihn bewegt hat, als er älter wurde. Was hat sein Leben bestimmt? Wer hat es beeinflusst? Wer war im Leben meines Vaters der Mittelpunkt, der Fixstern, bevor ich es wurde. Wie war er als junger Mann? Wenn er verliebt war? Wie hält man Krieg aus, Gefängnis, den Verlust eines Kindes, das in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges erschossen wird?
Als ich geboren wurde, hatte mein Vater nicht mehr allzu viel Leben vor sich. Er war sechzig Jahre alt, als ich zur Welt kam. Dass ihm nur noch dreizehn Jahre bleiben würden, um dieses Kind mit genügend seelischem Proviant für den Lebensweg auszustatten, konnte er damals nicht wissen. Aber er wird es
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