Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Glück, das niemand zu benennen vermag, es gibt Augenblicke, die alles andere überblenden, es gibt Schönheiten, die man kaum begreifen kann.
Und es gibt Abschiede.
Die man niemals.
Vergisst.
28
S hay Evans. Zweiundzwanzig Jahre alt. Sie liegt zwischen Brian Winter und Brandon West auf dem Wohnzimmerfußboden ihrer Wohnung und blickt durch das geöffnete Fenster hinaus in die Nacht. Ein kühler Wind streicht über ihren nackten Körper, aber sie friert nicht, denn Brians warme Hand ruht auf ihrer Taille, und Brandon hat seinen Arm um sie gelegt.
So liegen sie da.
Die drei Menschen der Stadt am Waldrand.
Die sich am nächsten sind.
Shay Evans, Brian Winter und Brandon West. Seit zwei Jahren leben sie zusammen in einer Dachgeschosswohnung direkt am Schlosspark und genießen die Stille, die Aussicht und das Gefühl, zu Hause zu sein.
Shay erinnert sich noch genau an den Augenblick, in dem sie Brian und Brandon zum ersten Mal gesehen hat, damals, im Off Road. Es war Hochsommer gewesen, sie hatte ein kurzes violettes Kleid an und war todmüde, weil sie die ganze Woche lang unermüdlich für ihr Philosophiestudium gelernt hatte. Trotzdem wollte sie noch kurz im Off Road vorbeischauen, um ihrem Bruder Rain zum Geburtstag zu gratulieren. Aber Rain stand natürlich wie immer an der Bar und war gerade dabei, einen seinen berüchtigten Cocktails zu schütteln, als Shay vor ihm auftauchte, um ihm sein Geschenk in die Hand zu drücken. Rain hatte fröhlich gelächelt und war kurz darauf hinter dem Tresen hervorgekommen, um Shay zu umarmen, dann hat er auf seine Freundin July gedeutet, die auf der Tanzfläche direkt unter der Discokugel stand, und über den Lärm hinweg hatte er Shay zugerufen, dass er in einer halben Stunde Feierabend hätte und sie dann doch zu dritt essen gehen könnten. Shay hatte zustimmend genickt, und Rain war zurück hinter die Bar verschwunden, um weiter seine Cocktails zu mixen.
Und dann.
In dem Moment.
In dem Shay sich umgedreht hatte, um zu July auf die Tanzfläche zu gehen, hat sie auf einmal Brian und Brandon gesehen. Die beiden standen nur wenige Meter von ihr entfernt an der Längsseite der Bar und blickten genau in der Sekunde von ihren Drinks auf, als Shay sie entdeckte.
Und dann.
Für einen unendlichen Augenblick.
Schien die Zeit sich zurückzuziehen.
Erst Schritt für Schritt, dann immer schneller. Bis nichts mehr übrig war. Abgesehen von der Ewigkeit.
Shay Evans. Zwei winzige Muttermale auf den Wangenknochen, dunkelbraune Haare und purpurfarbene Lippen. Sie ist das einzige Mädchen in der Stadt am Waldrand, das zwei Männer an ihrer Seite hat.
Brandon West und Brian Winter. Der eine ist vierundzwanzig Jahre alt, der andere fünfundzwanzig. Sie sind Freunde, seit sie sich in der siebten Klasse Rückendeckung gegeben haben, um die Exkursion ins Steinzeitmuseum zu umgehen. Mittlerweile studieren sie an derselben Universität; Brandon Literatur und Brian Kunstwissenschaften. Sie spielen gerne Squash und Volleyball, sie mögen Bitter Lemon und Erdnussbutter, sie hören Linkin Park und Rejected by choice. Und in all den Jahren, in denen sie sich nun schon kennen, ist ihre Freundschaft beständig gewachsen.
In die Höhe, in die Weite.
In die unendliche Tiefe.
Durch jeden Augenblick.
Und durch die Zeit.
Brandon West und Brian Winter. Sie wissen beide ganz genau, dass sie sich für immer aufeinander verlassen können. Sie haben keine Geheimnisse voreinander, sie belügen sich nicht, sie verstehen sich ohne große Worte. Sie teilen sich ihr Wissen, genau wie ihren Verstand und ihre Verständlichkeit. Sie sind freigiebig, hilfsbereit und achtsam, sie würden niemals etwas tun, was einen anderen Menschen verletzt.
Und seit dem Augenblick.
In dem sie Shay getroffen haben.
Lieben sie.
Ein und dasselbe Mädchen.
Shay Evans. Gewittergrüne Augen, lange schwarze Wimpern, zierliche Hände und ein wunderschönes Herz. Sie lauscht Brians ruhigem Atem, sie streicht über das Schattenspiel, das der weiße Mond auf Brandons Bauchmuskeln wirft, und fragt sich, woran die beiden wohl gerade denken, und ob sie auch manchmal Angst haben.
Vor der Zeit.
Nach dieser Zeit.
Weil alles, alles enden muss. Eines Tages, eines Jahres, eines Lebens Ende hin. Denn auch der Tod gehört zum Leben. Und egal wie lange er auf sich warten lässt, egal wie oft er einen Aufschub gewährt, egal wie leise er im Hintergrund verharrt, wie unscheinbar er sich verhält.
Irgendwann.
Kommt er doch.
Brandon
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