Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
aus der Stadt am Waldrand. Erinnerst du dich an ihn? Eure Augen haben sich getroffen. Das war kein Zufall. Die Zeit wusste, dass ihr euch bald wiederseht.
Er hat sich erhängt.
An ebendiesem Baum im Schlosspark.
Dabei wollte er das Gleiche wie du – leben. Verstehst du jetzt, wo du dich befindest? Weißt du jetzt, wie dieser Ort hier heißt?«
Jenny hebt ihren Kopf und nickt. Die leise Stimme verschwindet; aber der Junge, auf dem Baum, zwischen den dichten Ästen – er bleibt. Jenny geht einen Schritt auf den Baum zu und späht zu ihm hinauf. Er sieht ängstlich aus.
Ob er es wohl vermisst? Das Leben.
Ja. Natürlich.
Es tut weh.
So weh.
Hinter sich kann Jenny das Schluchzen ihrer Schwestern hören, die Mutter sagt ein Gedicht auf, aus einem Buch, das Jenny einmal gelesen hat. Aber Jenny dreht sich nicht um. Denn sie weiß jetzt, dass dort niemand stehen wird. Es sind nur die letzten Erinnerungen, die nachklingenden Bilder, das Echo einer längst vergangenen Zeit.
Und sie weiß auch: Natürlich könnte sie bleiben. Hier am Ufer, an diesem nebligen See. Zwischen ihren Träumen. Sie könnte sich verlieren, in all den Augenblicken, die sie nicht mehr miterleben kann, sie könnte weinen, um alles, was sie hätte haben können.
Wenn sie nicht.
So jung gestorben wäre.
Aber Jenny ist ein kluges Mädchen. Sie kennt ihren Verstand, und sie vertraut auf ihr schlagendes Herz. Sie hat ein Leben lang mit dem Tod gelebt, sie war darauf vorbereitet, früher zu gehen als andere. Und sie weiß, dass dieser Junge, dort oben auf seinem Baum, darauf wartet, dass jemand zu ihm hinüberkommt und ihm sagt, dass er nicht für immer in diesem Augenblick gefangen sein muss.
Dass er loslassen kann.
Wann immer er will.
Jenny entfernt sich weiter von dem nebligen See, und mit jedem Schritt, der sie näher an den Baum heranführt, erkennt sie mehr über die Unendlichkeit der zeitlosen Gebiete. Sie versteht, was hier zusammenläuft, um sich ein letztes Mal zu bündeln, nur um schließlich in der geheimnisvollen Ewigkeit zu verschwinden.
Es ist das Leben. Und der Tod.
Gleichberechtigt.
Denn hier vereint sich das Ende der Zeit mit dem Anfang der Zeitlosigkeit. Hier hebt die Phantasie die Wirklichkeit auf, hier wird die Wirklichkeit bestätigt, durch die unendliche Phantasie.
Jenny Emmet. Vierzehn Jahre lang ein Mädchen der Stadt am Waldrand, aber nun ist sie ein Mädchen der Stadt am See. Gerade erst gestorben und doch schon auf dem weiten Weg.
Jenny Emmet. Mädchen im Regen, Mädchen im Schnee. Weiße Haut, hellrosa Lippen, zwei Wintersprossen auf ihrer Nasenspitze, langes wehendes Haar.
Sie zittert vor Kälte.
Aber ein Lächeln umspielt ihre Angst.
Denn sie verabschiedet sich gerade schweigend, ohne sich umzudrehen, von ihren Schwestern und von ihrer Mutter. Sie verabschiedet sich von den spielenden Freunden. Sie verabschiedet sich von dem glühenden Fieber unter ihrer schneeflockenbesetzten Haut.
Und schließlich.
Verabschiedet sie sich.
Von der Zeit.
Jenny Emmet. Mädchen in der Stadt am See. Endlich erreicht sie den blühenden Baum. Sie bleibt stehen, direkt unter den dichten Ästen, sie sieht hinauf zu dem leblosen Jungen und lächelt ihm zu.
Er erkennt ihr hübsches Gesicht.
Er erinnert sich an die Enten im Park.
Er erinnert sich an seinen Namen: Decan West.
Und da weint er vor Glück.
Weil auch er. Endlich.
Versteht.
Epilog
S ie flüstern im dichten Nebel über dem See. Sie tanzen die Uferböschung entlang, sie schlafen im Regen zwischen der aufschäumenden Gischt. Sie sind dort. Ganz sicher. Auch wenn man sie nicht sehen kann. Ihre Stimmen durchdringen die Ewigkeit, sie erzählen alles, was war, alles, was wird, und alles, was niemand wissen kann.
Sie lächeln.
Manchmal ist es helllichter Tag.
Manchmal ist es finstere Nacht.
Und manchmal vereinen sich beide zu einem Lichtermeer aus Zeitbruchstücken, die in sich selbst vollkommen sind, und doch nicht existieren. Aber hier, in der Stadt am See, ist kein Augenblick unbestätigt, hier hinterfragt kein Moment seine lautlose Absolution.
Es ist Winter. Es ist Frühling.
Es ist Sommer. Es ist Herbst.
Kein Tag endet.
Kein Tag beginnt.
Aber die unsichtbaren Gestalten in dem weisen Nebel, über dem See, sie machen sich keine Gedanken darüber. Sie verlieren sich nicht in einer Vorstellung von etwas oder dem Raum hinter dem Raum, zwischen dem Raum, neben der aufgezogenen Wand. Sie suchen nicht nach einem Wort, um zu beschreiben, was längst
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