Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
hören, um zu begreifen, dass hinter jeder Geschichte eine Geschichte steckt. Man muss es nicht in eine wortgewandte Sprache übersetzen, um zu verstehen, dass ein Anfang nicht endet, nur weil er dem Ende entgegengeht. Da wird trotzdem immer die Zeit sein. Die uns alle, alle bindet.
An ein Gehirn, das sich erinnert.
Und atmet. Und flüstert.
Und schmerzt.
Isabella May. Sie ist Schauspielerin – schon ein ganzes Leben lang. Als Kind hat sie so getan, als wäre sie unendlich, dabei war sie längst tot. Sie hat gelacht über jeden Witz. Sie ist gestolpert über jede Intention. Sie hat sich gefragt, warum es keinen Zusammenhang gibt, zwischen ihr und ihrem Befinden.
Sie konnte ihn sehen, den Zwiespalt der Zeit. Sie hat ihn lautlos angestarrt, den Verfall ihrer Wahrnehmung. Sie hat sich begrenzt, in diesem schwarzen Loch ihrer Gedanken. Und die Stille. Sie war so laut, dass sie angefangen hat zu schreien.
Aber was ist eine Stimme, ohne ein Wort?
Schweigen. So nackt wie ein Mädchen.
Im Regen.
Isabella May. Sie wird niemals aufhören zu atmen, denn sie hat gelernt, auch unter Wasser zu bestehen. Sie kann tauchen und schwimmen, als gäbe es keine Tiefen, die sie nicht kennt, als gäbe es keine Wellen, die an Klippen zerbrechen und sich im Sand verlieren.
Sie kennt die Oberfläche von allen Seiten.
Sie hat auf den größten Bühnen der Stadt am Waldrand gestanden und ganz nebenbei die erfolgreichsten Filme der Zeit gedreht. Sie weiß genau, wie man einen Charakter zum Leben erweckt, denn ihr eigener ist stark genug, um mutiger zu sein als die Angst vor der Schwäche.
Isabella May. Sie gibt jeden Tag Autogramme, obwohl sie hin und wieder ihren Namen vergisst. Sie lächelt in jede Kamera, dabei würde sie niemals eine Zeitschrift mit ihrem Foto darin in den Händen halten. Sie hat alle wichtigen Filmpreise gewonnen und unzählige Auszeichnungen entgegengenommen. Sie hat alles erreicht, wovon andere träumen.
Aber ihre eigenen Träume?
Sind leer.
Isabella May. Bis zu ihrem letzten Tag wird sie wissen, wie nachtragend Luft schmeckt; sie wird immer fühlen, welcher Windzug gerade in ihrem Nacken spielt. Denn sie kennt die Regeln des Lebens und die des Todes. Sie weiß, wie groß der Schmerz ist, der einen Menschen verschluckt. Sie weiß, wie beharrlich er auf jedem einzelnen Knochen kaut.
Bis ihm schlecht wird.
Vor Hunger.
Aber sie kennt auch das Glück. Und sie weiß: Schönheit ist ein Augenblick, der unsichtbar den Raum betritt. Ja. Sie kennt das leise Tapsen, die winzigen Fußstapfen, die tastenden Zehen.
Und sie weiß: Das ist der Widerstand.
Der uns zurückverwandelt.
Von einem Gegenstand.
In einen Menschen.
Isabella May. Ihr Vater sitzt seit zwei Jahren im Gefängnis, weil er den Unterschied zwischen einem Kind und einer Sexpuppe nicht verstanden hat. In drei Jahren wird er wegen guter Führung frühzeitig entlassen werden, und die Stadt am Waldrand verlassen, um an einen anderen Ort zu ziehen.
Er wird nie wieder zurückkehren.
Er wird eine neue Frau finden und heiraten.
Er wird eine Tochter bekommen.
Isabella. Wird sie heißen.
Ja. Die Zeit. Sie flüstert uns zu. Bis wir begreifen, was wir nicht verstehen können. Und dann? Dann wissen wir auf einmal, dass wir unseren Verstand bestätigen, mit jedem Wissen, zu dem wir uns bekennen.
Isabella May. Das stärkste Mädchen in der Stadt am Waldrand, die beste Freundin von Alice Clay. Sie hat den Ausdruck gefunden, der ihren Schmerz in Schönheit verwandelt, sie hat aufgehört, die roten Narben auf ihrem Arm mit Make-up zu bedecken.
Sie kennt ihre Fehler.
Sie kennt ihre Schwächen.
Sie kennt ihren einstweiligen Verlauf.
Und sie wird sich für immer erinnern. An ihren Vater. Egal wie sehr er sie vergessen hat. Sie wird niemals wissen, wie es hätte sein können, wenn alles anders gewesen wäre. Sie wird niemals hinterfragen, warum ein Raum seine Farben verliert, sobald er mit Dunkelheit beleuchtet wird. Sie wird niemals erklären können, wie es sich anfühlt, im hintersten Blickwinkel einer unsichtbaren Verfassung.
Gefangen zu sein.
Isabella May. Sie ist gestorben.
Acht Jahre lang – immer wieder.
Aber heute.
Ist sie.
Hier.
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M ike King steht im Proberaum der Rejected by choice und starrt das Mikrofon vor seiner Nase an, als hätte er keine Ahnung, wozu diese Gerätschaft dient. Am Schlagzeug sitzt Doyle, am Keyboard steht Levin, und mit seiner knallroten Gitarre in der Hand lungert Flow irgendwo dazwischen herum. Keiner sagt
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