DACKELKRIEG - Rouladen und Rap
Internet bewältigen können, denn Handys gab es damals noch nicht, und hatte das Christkind eigentlich keine Mutter, die sich Sorgen machte, wenn es in seinem jungen Alter schon alleine reiste und im Dunklen in fremde Häuser einstieg? Mein Bruder und ich verbrachten viel Zeit mit Recherche der harten Fakten über das mysteriöse Wesen. Außerdem kontrollierten wir akribisch alle Türen auf Fingerabdrücke, legten Mehl im offenen Kamin aus, um Trittspuren feststellen zu können und bauten Fallen auf. Wir spannten Schnüre und überwachten alle Eingänge mit modernster
Tesafilm
-Technologie. Aber nie ließ sich etwas Verdächtiges feststellen.
Mein Christkind wurde erst entzaubert, als ich im Alter von zwölf Jahren meinen genialen Vater zufällig dabei erwischte, als er mit uns vor der Tür auf das einladende Glockenbimmeln des Christkindes wartete, und dabei sachte an den Pantoffeln zog, die immer neben der Wohnzimmertüre auf dem Boden standen. Aha, erwischt! Von den Pantoffeln führte eine, für das bloße Auge unsichtbare, Nylonschnur unter dem Türschlitz bis zu unserem großen Wohnzimmerschrank, an dessen Unterseite ein kleines Glöckchen hing, das er so mühelos aus der Entfernung bimmeln konnte. Hut ab! Vater war das Christkind. Ich schwieg und mein Bruder legt auch noch heute an Heilig Abend Mehl im Kamin aus, um das kleine Biest auf frischer Tat zu ertappen.
Der Heilig Abend gehörte immer ganz meiner Familie, die eine recht kleine Familie ist: Meine Großmutter, mein Onkel, meine Eltern, mein Bruder, der Hund und ich. An den Festtagen spielten wir Kinder ununterbrochen und aßen Mutters Chili con Carne, bis wir Bauchschmerzen hatten. Wir durften einen kleinen Schluck Sekt probieren, den ich aber nie besonders mochte und auf dem Küchentisch stand den ganzen Tag köstliches selbstgebackenes Spritzgebäck mit Schokoladenglasur. Am Weihnachtsbaum hingen Schokoladenfiguren zwischen dem dekorativen Messie-Schrott, die wir jederzeit abpflücken und naschen durften, was besonders dem Hund gefiel.
Am ersten Weihnachtsfeiertag kochte Großmutter uns immer ein großes Festessen. Dafür stopfte sie mit ihren sehnigen Armen, auf denen die stolzen Altersflecken eine hübsche Patina zeichneten, Tiere in andere Tiere und stellte Füllsel aus Innereien her, das sie in weitere Tieren steckte, in denen andere Tiere steckten, die in dem Fett eines weiteren Tieres gebraten wurden und mit Speckwürfeln eine besondere Geschmacksnote erhielten. Mein Vater und mein Onkel spielten den ganzen Nachmittag
NES
,
SNES
,
N64
,
Carrera
-Bahn oder Kicker mit oder gegen meinen Bruder und mich. Mutter strickte ununterbrochen. Die anderen Geschenke, die wir noch tags zuvor mit leuchtenden Augen ausgepackt hatten, standen vergessen in der Ecke, während aus der Küche der Geruch von Gans, Ente, Reh, Huhn, Hähnchen, Truthahn, Hirsch, Rind, Schwein und Klößen zu uns strömte und wir mit unseren Controllern die kleinen Karts über die
Rainbow-Road
steuerten und den
Mushroom-Cup
gewannen oder verloren. Je nachdem.
Braune Sauce und Rotkohl in der Küche. Im Wohnzimmer war die Heizung damals noch gewissenlos aufgedreht und wir hatten rote Backen vor Aufregung und Glück und kuschelten uns mit selbstgestrickten Wolldecken auf den Teppich vor den Fernsehapparat, wo der öffentlich-rechtliche Rundfunk den
Kleinen Lord
mit seiner
Playmobil
-Frisur oder tschechische Märchenverfilmungen zeigte, in denen Tiere misshandelt wurden. Aber jedes Glück hat auch mal ein Ende und meines wurde mir von
König der Löwen
genommen.
Das Geschenk war klein und handlich, aber ich wusste sofort, obgleich es noch in buntem Geschenkpapier eingewickelt war, dass es die
König der Löwen
VHS sein musste, die ich mir so sehnlichst gewünscht hatte. Obwohl ich bereits den Inhalt kannte, wagte ich mich erst ganz zum Schluss der Bescherung an das Auspacken dieses besonderen Geschenks. Alle anderen Kinder meiner Schulklasse hatte den Film bereits im Kino gesehen, ich nicht. Bis über beide Ohren strahlend, faltete ich sachte das Geschenkpapier um die Videokassette auf. Nicht, weil meine Eltern welche dieser Schweineeltern gewesen wären, die Geschenkpapier ein zweites Mal benutzen wollten und damit ihren Kindern die Freude am Geschenke auspacken schmälerten, sondern weil ich jede Sekunde der Vorfreude voll auskosten wollte. Ich war schon immer ein Genießer. Auch heute bleibt bei mir das Fleisch bis zuletzt auf dem Teller liegen, damit ich nach dem Verzehr des
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