DACKELKRIEG - Rouladen und Rap
habe. Das ist mir einfach zu riskant.
In der folgenden Nacht knipste ich die kleine Leselampe neben meinem Kinderbett an. Unter mir ruhte der vergessene Staubsauger, aber sein Inhalt hatte sich über das gesamte Zimmer verteilt. Überall saßen dicke schwarze Spinnen. Oder sie liefen. An den Wänden. Auf meiner Decke und auf dem Boden. Mein Fluchtweg zur Tür war versperrt. Die meisten der Biester schienen durch das Einsaugen nicht getötet worden zu sein, sondern mussten im Laufe der Nacht mühelos den Hals des Geistersaugers wieder hoch geklettert sein und erkundeten nun mit ihren unzähligen Beinen das nächtliche Kinderzimmer, das eher einem Kriegsschauplatz in einem Science-Fiction Film mit Horrorelementen glich, als einer sicheren Schlafstätte für zwei kleine Kinder. Mein grelles Schreien muss das ganze Haus aufgeweckt haben, denn plötzlich waren alle Familienmitglieder unglaublich geschäftig bei dem Versuch meinen zuckenden und krampfenden Körper und meinen bleichen Bruder ins sichere Wohnzimmer zu evakuieren, in dem ich mit weit aufgerissenen Augen einige Tage regungslos verharrte.
Wie ich wegen König der Löwen anfing zu trinken
Es gibt in jedem Leben einen Zeitpunkt, ab dem man nur noch sagt, dass man "die Toilette benutzen" möchte anstatt „Ich muss mal ein Bächlein machen!“. Genau ab diesem Zeitpunkt ist man dann niemanden mehr eine Angabe seines genauen Vorhabens schuldig. Muss man jetzt Groß oder Klein? Egal, denn das macht man nun mit sich selbst aus. Man trägt ab jetzt die Verantwortung für den eigenen Stuhlgang. Wenn man diesen Zeitpunkt allerdings verpasst, weil man gerade heimlich auf dem Klo raucht, kann es passieren, dass man mit Ende Dreißig bei einem Date sitzt und das Gegenüber sich entschuldigt „Ich bin mal eben auf Toilette!“ und man „Groß oder Klein?“ fragt. Oder man möchte „Brauchst du Hilfe?“ wissen. Das kommt dann in der Regel nicht so gut an.
In meinem bisherigen Leben gab es genau drei ausschlaggebende Entwicklungskatalysatoren: Das Gespräch mit Mutter, in dem ich sie bat, nicht mehr über "Bächlein", sondern über die "Toilette" zu sprechen und mich damit von der Macht ihrer unsinnigen Verniedlichungssprache emanzipierte, die Spinnenpsychose und der
König der Löwen
. Der Film ist mein Erwachsenwerden in neunzig nervenaufreibenden Minuten und ich habe damals wegen
König der Löwen
angefangen zu trinken.
1994, als der
König der Löwen
von
Walt Disney
gerade ganz frisch in den Kinos der Umgebung gezeigt wurde, war ich neun Jahre alt. Da meine Eltern keine Lust hatten, mich in das kleine verspermte Raucherkino der Stadt zu begleiten, um sich sonntagnachmittags in einen überfüllten Kinosaal mit schreienden Kindern und noch lauter brüllenden Erziehungsberechtigten zu quetschen, blieben wir lieber daheim, um in der Sonne auf der Terrasse Unkraut zu jäten. Ich war also das einzige Kind in einem Umkreis von vierhundert Kilometern, das warten musste bis der
König der Löwen
endlich auf VHS erhältlich war.
Weihnachten war es dann soweit: Die Videokassette lag unter dem reichlich geschmückten Baum, den meinen Eltern in familiärer Tradition immer derart mit thematisch unpassendem Weihnachtschmuck einkleideten, dass man sich bei dessen Anblick immer verwundert fragte, wann er seine Mission auf der Erde beendet haben und wieder ins All aufbrechen würde. Was würde er dort wohl von unser Familie berichten? Vielleicht Großmutters Geheimrezept der köstlichen Schweinefettmakronen, die es an Weihnachten immer gab, oder Papas Supertrick, mit dem er uns Kinder jahrelang an der Nase herumführte? So ein Teufelskerl!
Papa war nicht nur ein begnadeter Künstler, Papa war auch ein talentierter Zauberer. Wir glaubten schon lange nicht mehr an das Christkind, aber doch gab es in unserer Familie immer ein ungelöstes Rätsel: Die Wohnzimmertüre war vor der Bescherung an Heilig Abend immer fest verschlossen und alle Familienmitglieder warteten gespannt in der Diele, bis wie von Zauberhand eine Glocke im Wohnzimmer hell bimmelte, die angeblich, so behaupteten es zumindest Vater und Mutter, das Christkind betätigen würde. Irgendwie wussten wir - da war etwas faul. Aber was? Das Christkind? Nehmen wir mal an, das Christkind wäre 1988 sieben Jahre alt gewesen, dann wäre es heute schon weit über Dreißig und bezeichnet sich wirklich immer noch als Kind? Das stinkt doch zum Himmel! Wie hätte ein Siebenjähriger eine derartige Logistik ohne Mobiltelefon oder
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