Daddy Langbein
einer großen Stadt zu beobachten.
Gestern nahm ich es mit auf meinem Spaziergang, und als ich am Gaswerk vorbeikam, ging ich hinein und fragte den Ingenieur, ob ich seinen Ofen benutzen dürfe. Er machte höflich die Tür auf, und mit eigenen Händen warf ich es hinein. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich mein eigenes Kind verbrannt!
Gestern abend ging ich völlig niedergeschlagen ins Bett; ich dachte, ich würde nie etwas taugen, und Du habest Dein Geld umsonst hinausgeworfen. Aber was glaubst Du? Heute morgen bin ich mit einer ganz wunderschönen neuen Fabel im Kopf aufgewacht, und den ganzen Tag habe ich meine Charaktere ausgedacht und war so glücklich wie möglich. Niemand kann mir vorwerfen, daß ich ein Pessimist sei! Wenn mir an einem Tage ein Mann und zwölf Kinder durch ein Erdbeben verschlungen würden, würde ich am nächsten Morgen lächelnd wieder in die Höhe kommen und anfangen, mich nach einer zweiten Serie umzutun.
Herzliche Grüße
Judy.
14. Dezember.
Lieber Daddy-Langbein!
Heute nacht habe ich den komischsten Traum gehabt. Ich ging in einen Buchladen, und der Verkäufer brachte mir ein neues Buch mit Namen „Das Leben und die Briefe von Judy Abbott.“ Ich konnte es genau sehen — roter Leineneinband und ein Bild des John-Grier-Heims auf dem Deckel und mein Porträt auf der Titelseite und darunter „Mit herzlichen Grüßen Deine Judy Abbott.“ Aber gerade als ich den Schluß aufschlug, um die Inschrift auf meinem Grabstein zu sehen, wachte ich auf. Es war sehr ärgerlich. Fast hätte ich erfahren, wen ich heiraten werde und wann ich sterbe.
Findest Du nicht, daß es interessant wäre, wenn man wirklich die Geschichte seines Lebens lesen könnte — ganz wahrheitsgemäß von einem allwissenden Autor geschrieben? Und angenommen, man könnte sie nur unter folgender Bedingung lesen: daß man den Inhalt nie vergißt, aber das Leben durchlaufen müsse und im voraus schon weiß, wie alles, was man tut, ausfallen wird und bis auf die genaue Stunde voraussieht, wann man sterben wird. Wieviele Menschen, meinst Du, würden den Mut haben, sie dann noch zu lesen? Oder wieviele würden ihre Neugierde genügend bezähmen, um der Lektüre zu entgehen, selbst für den Preis, ohne Hoffnung und ohne Überraschungen leben zu müssen?
Das Leben ist schon sowieso monoton genug; man muß sooft essen und schlafen. Aber stell Dir vor, wie tödlich monoton es wäre, wenn sieh zwischen den Mahlzeiten nichts Unerwartetes ereignen würde. 0 je! Daddy, das ist ein Tintenklecks, aber ich bin schon auf der dritten Seite und kann nicht noch einmal von vorn anfangen.
Ich fahre dies Jahr mit Biologie fort — ein sehr interessantes Fach; wir studieren gegenwärtig das Ernährungssystem. Du solltest sehen, wie süß der Querschnitt des Zwölffingerdarms einer Katze unter dem Mikroskop ist.
Außerdem sind wir bei der Philosophie angekommen. Interessant, aber nebelhaft. Ich ziehe Biologie vor, wo man das behandelte Subjekt auf einem Brett aufnadeln kann. Da ist noch einer! Und noch einer! Diese Feder weint überfließend. Bitte entschuldige ihre Tränen.
Glaubst Du an den freien Willen? Ich schon — ohne Einschränkung. Ich stimme gar nicht mit den Philosophen überein, die glauben, daß jede Handlung die vollkommen unvermeidliche und automatische Folge einer Anhäufung von fernen Ursachen sei. Das ist die unmoralischste Lehre, die ich je kennenlernte — niemand wäre an irgend etwas schuld. Wenn ein Mann an Fatalismus glaubt, würde er sich natürlich einfach hinsetzen und sagen: ,,Der Wille des Herrn geschehe“ und immer weiter Sitzenbleiben, bis er tot umfiele.
Ich glaube absolut an meinen eigenen freien Willen und an meine eigene Kraft, etwas fertigzubringen — und das ist der Glaube, der Berge bewegt. Paß nur auf, wie ich ein großer Autor werde! Ich habe vier Kapitel meines neuen Buches fertig und fünf weitere geplant.
Dies ist ein sehr abstruser Brief — tut Dir der Kopf weh, Daddy? Ich denke, wir werden jetzt aufhören und etwas Fudge machen. Es tut mir leid, daß ich Dir nicht ein Stück schicken kann; denn wir machen es aus echtem Rahm und mit drei Butterkugeln.
Herzliche Grüße von Deiner
Judy.
P. S. Wir haben rhythmisches Tanzen in der Gymnastik. Aus dem Begleitbild kannst Du sehen, wie sehr wir einem echten Ballett gleichen. Diejenige am Ende, die eine graziöse Pirouette vollführt, ist ich — bin ich, meine ich.
26. Dezember.
Mein lieber, lieber Daddy!
Hast Du Deinen Verstand
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