Daisy Sisters
Ihr Feuer brennt im Verborgenen, es weckt keine Aufmerksamkeit. Sie hat gemerkt, dass diese fünf Tage mit Vivi etwas Wichtiges bedeuten. Sie hat Mut bekommen. Ein Gefühl, dass die schwarze Farbe auf der Lampenschale weggewaschen wird, damit das Licht besser zu sehen ist. Sie hat Mut bekommen, und die ersten Bruchstücke eines Weltbilds, das anders aussieht als das, was sie bisher kennt, beginnen sich zusammenzufügen. Vivi saugt an einem Grashalm und fragt, ob sie verstehe. Was verstehe? Dass es einen Unterschied gibt zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, das hat sie wohl immer schon gewusst, das ist nicht bemerkenswerter, als dass es einen Unterschied gibt zwischen Volk und Volk. Aber dass der Unterschied etwas Wichtiges beinhaltet, dass es Menschen gibt, die freiwillig Gefahr und Außenseitertum wählen, dass Überzeugung etwas ist, was etwas kostet, das entdeckt sie erst jetzt.
Vivi hat gesagt, sie kommt nach ihrem Vater, und Elna weiß, dass sie selbst fast eine Kopie von Rune ist, nicht in allem, Gott bewahre, aber in vielem. Und sie und Vivi sind ungleich. Was bedeutet das? Dass sie beide Töchter der Arbeiterklasse sind, verbindet sie, aber die Frage ist, ob es nicht genauso viel gibt, was sie trennt.
»Rune ist Sozialdemokrat«, sagt Elna und legt den Kopf auf die hochgezogenen Knie.
»Man sieht deine Unterhose, wenn du so dasitzt«, sagt Vivi statt einer Antwort mit einem Grinsen.
Das ist nicht schlimm, aber doppeldeutig. Elna zieht ihr Kleid herunter und merkt, dass es ihr peinlich ist.
»Mein Papa sagt, Sozialdemokraten sind das Schlimmste, was er sich vorstellen kann«, fährt Vivi fort. »Aber er meintdas nicht so, die meisten seiner Freunde und Arbeitskameraden sind ja Sozis. Aber er sagt es. Er ist wie ich, er hat eine große Klappe.«
Vivi streckt sich im Gras aus, blinzelt in die Sonne.
Elna überlegt, was sie antworten soll. »Mit Rune ist es genauso, nur umgekehrt«, sagt sie schließlich. »Es ist der Mittelstand, von dem er am wenigsten hält. Und das tu ich auch. Du nicht?«
Vivi hebt den Kopf, stützt ihn in eine Hand und blinzelt sie an. »Klar«, sagt sie. »Aber wie können wir ihnen beikommen, ohne uns mit ihnen zu einigen?«
Wer ist wir? Wir können uns doch einigen, denkt Elna. Oder geht das nur per Brief oder während einiger kurzer Sommertage auf einer Fahrradtour?
Sie wundert sich.
Aber mehr wird nicht daraus, die Sonne ist zu warm, die aufkeimende Diskussion erstirbt. Dass Vivis Art, direkt und freimütig, ihre Spur bei Elna hinterlassen hat, das wird sie später merken. Nun zieht die Sonne schon niedriger über den Himmel, bald werden sie die Grenze besuchen. Aber zuvor noch ein weiterer Kommentar vom Rastplatz auf dem Hügelrücken.
Es ist Vivi. »Sie waren süß«, sagt sie.
»Wer?«
»Die Wachtposten, natürlich! Wer sonst?«
Aber als sie vor ihnen auf dem Weg stehen, ist es nur Olle, den sie wiedererkennen. Der andere war am Morgen nicht dabei.
Vivi und Elna haben eine Weile an der Landstraße gestanden und gewartet, als die beiden hinter einem Gestrüpp auftauchen. Elna hat das unbestimmte Gefühl, dass sie dort gelegen und sie belauscht haben.
»Wir haben heute Abend Urlaub«, sagt der, der sich Ollenennt, als er sich vorstellt. »Aber ich werde nie anders als Nypan, der Finger, gerufen«, fügt er hinzu.
Vivi hat ihr Fahrrad in den Graben gelegt und fordert ungeniert eine Erklärung, nachdem sie erzählt hat, dass sie Vivi und Elna heißen. Ohne Spitznamen. Daisy Sisters ist etwas anderes, das ist ein kindliches Spiel, das erwähnt man nicht vor Außenstehenden, wenn man siebzehn ist.
»Nypan, weil mich niemand im Fingerhakeln schlägt«, antwortet er und steht breitbeinig wippend auf der Landstraße, mit den Händen in den Hosentaschen. Der andere ist blass, lang wie eine Stelze und sagt nichts. Nur seinen Vornamen, Nils.
Wie Figuren in einer Art Entscheidungsrunde stehen sie auf dem Kies. In der Mitte Vivi und Olle (oder Nypan), schräg dahinter Elna und Nils.
Nypan dirigiert sie auf einen Waldweg.
»Ist das hier erlaubt«, fragt Vivi.
»Es ist verboten, zum Teufel«, antwortet Nypan. »Wir riskieren die Todesstrafe. Oder zumindest Ausgangssperre. Aber, zum Teufel …«
Vivi ist an seiner Seite, Elna und der Blasse schleichen einige Schritte hinter ihnen.
Elna sieht ihn verstohlen an. Er ist nicht hübsch, außerdem picklig. Er ist scheu und verschämt, könnte über seine eigenen Füße stolpern, denkt sie und kann ein Kichern nicht
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