Daisy Sisters
In der Dunkelheit mussten sie einen Weg passieren, der von deutschen Soldaten bewacht wurde. Ihr Bruder Aage hatte Rotwein bekommen, weil er schlafen sollte, Rotwein mit irgendeinem Zusatz. Der norwegische Lotse hat den Jungen getragen. In dem Moment, als sie über den Weg wollen, kommt plötzlich ein deutscher Truppentransport in einem Lastwagen, und sie müssen sich in den Graben werfen. Die Deutschen hatten den Zeitpunkt für die Wachablösung geändert, was der norwegische Grenzlotse nicht wissen konnte. Unten im Graben wird Aage wach, Mama muss sein Gesicht fest gegen ihre Brust drücken. In einem schrecklichen Augenblick sieht Toril, wie zwei deutsche Soldaten weniger als zwei Meter von ihnen entfernt stehen bleiben. Sie sieht die Stahlhelme, die grünen Uniformen, hört einen scharfen Wortwechsel in derfurchterregenden deutschen Sprache. Aber sie werden nicht entdeckt und können schließlich weitergehen. Toril hat sie gesehen, gehört. Sie weiß nur so viel, dass sie ihr Haus in Hamar Hals über Kopf verlassen mussten. Ihr Vater ist in der norwegischen Widerstandsbewegung, und sie wissen, dass sie jederzeit als Geiseln für ihn genommen werden können. Sie hatten gerade mal eine halbe Stunde, um sich auf den Weg zu machen, alles mussten sie zurücklassen. Der Bruder durfte nicht mal seinen Teddy mitnehmen.
Vivi und Elna sehen das blasse Mädchen an, das von der anderen Seite der Grenze gekommen ist. Isak sagt ihr, sie solle hineingehen und sich auch hinlegen. Sie werden noch fünf Kilometer gehen müssen, nur wenn sie Glück haben, können sie ein Stück auf dem Pferdewagen mitfahren. Sein Auto ist kaputt, und sie müssen weiter. Er hat einen Bericht von seinem Kontaktmann auf der anderen Seite der Grenze bekommen, dass die Gestapo mehrere Widerstandszellen ausgehoben hat, und dann kommen die Flüchtlinge immer in großen Gruppen.
Toril gehorcht und verschwindet im Haus.
»Für diese drei ist es noch gefährlicher als für die anderen«, sagt er dumpf. »Der Vater ist nicht nur in der Widerstandsbewegung, er ist auch Mitglied in der kommunistischen Partei.«
Am Nachmittag führt Isak die norwegische Frau mit ihren Kindern nach Osten, hinunter ins Tal. Seine Frau winkt ihnen nach, Toril hält ihren Kamm ganz fest. Vivi und Elna schieben ihre Fahrräder auf demselben Weg zurück, den sie gekommen sind. Oben auf dem Hügelrücken ruhen sie sich aus, legen sich ins Gras. Es ist windig geworden, aber die Luft ist mild. Im Nordwesten türmen sich dunkle Wolkenbänke auf wie Kulissen. Bevor sie Isak Lebewohl gesagt haben, fiel es Elna noch ein, nach der Uhrzeit zu fragen. Erschaute zum Himmel und sagte, es sei vier. Also bleiben immer noch einige Stunden Zeit, bis sie zu den Wachtposten zurückkehren sollen, um zur Grenze eskortiert zu werden.
»Heute ist Samstag«, sagt Vivi.
Samstag?
Elna bekommt einen Schrecken. Es ist schon fünf Tage her, seit sie auf dem Bahnhof in Borlänge stand, um ihre Freundin zu treffen. Bald müssen sie die Rückfahrt antreten, zum Rechen und Heustapeln in Skallskog.
In einer Art zeitlosen Spiels sind die Tage vergangen, sie haben viele Nächte dicht beieinander geschlafen, nackt haben sie in Bächen und kleinen Waldseen gebadet, keine hat einen Leberfleck auf der Haut, den die andere nicht gesehen hat.
Nun scheint es, als ob die Haltbarkeit ihrer Freundschaft geprüft werden müsste.
Sie sitzen auf dem Rücken des Hügels und schauen über die Landschaft. Es ist ein geografisches Grenzland, Fjäll, Wald und Wiesen, ein bisschen Schweden, halb fremd, halb vertraut, eintöniger Kiefernwald rund um Sandviken, flache, unendliche Äcker um Landskrona (außer dem Sund natürlich).
Vivi kratzt an einem Mückenstich, gedankenvoll, abwesend. Sie ist eine Persönlichkeit ohne Übergänge, in einem Augenblick frech und herausfordernd, im nächsten tief versunken in einer fernen Welt. Und genauso schnell, ohne Vorwarnung, ist sie wieder zurück. Wie jetzt.
Sie wirft das Haar aus dem Gesicht (den Kamm hat sie schon vergessen) und schaut Elna aufmerksam an. »Verstehst du jetzt«, fragt sie. »Verstehst du, wie es Vater geht. Du hast gehört, was der Alte gesagt hat. Du hast es gehört!«
Elna ist bekannt dafür, nett und fügsam zu sein. Gerade das Letzte, gutmütig, genügsam, ist eine Auszeichnung. Der Genügsame hebt selten den Blick vom Boden, vermeidet eswahrzunehmen, dass die Welt sonderbarerweise ungerecht eingerichtet ist.
Aber ist sie wirklich so eine? Nein, natürlich nicht.
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