Daisy Sisters
aber sie schüttelt den Kopf. Jacob war nicht da, als sieihn brauchte, und jetzt will sie ihn nicht sehen … Nein, sie sollen niemanden benachrichtigen. Alles ist in Ordnung, und dann fragt auch keiner mehr. Sie liegt allein in einem weißen Zimmer, dann und wann kommt jemand und schaut nach ihr und sagt, dass der Muttermund sich immer noch nicht weit genug geöffnet habe, sodass es noch viele Stunden dauern wird. Welche Gedanken sind ihr während all dieser Stunden durch den Kopf gegangen? Sie erinnert sich nur an die weißen Wände, das Geklapper vom Flur her, an Türen, die geöffnet und wieder geschlossen wurden. Das grelle Licht, ihr eigener Herzschlag. Und die rasende Enttäuschung darüber, dass Jacob nicht da war … Ihr hilfloses Ausgesetztsein …
Zwischen zehn Uhr und ein Uhr am 28. Januar 1961 besteht Eivor den größten Kampf ihres bisherigen Lebens. Sie weiß nicht, wie viele Male sie denkt, dass sie es nicht schafft, dass sie es nicht länger aushält. Frauen, die sich über sie beugen, die Hebamme, sehr bestimmt, Worte, die sich in ihr Bewusstsein drängen, darüber, dass ihr Mann da draußen wartet, und immer wieder dieses furchtbare Pressen, das niemals etwas bewirkt. Aber wenige Minuten nach eins, an jenem Wintersonntag ohne Schnee, ist alles vorüber, die Nabelschnur wird durchtrennt, und Eivor hat einen Sohn geboren. Als Jacob hereinkommt, zuerst allein, dann mit Linnea und Artur, ist sie so müde, dass sie nicht sprechen kann. Nur schlafen will sie, und dann wird sie sich des Kindes annehmen, das neben ihr liegt, rot, schrumplig und ganz und gar unbegreiflich.
(Irgendwann während dieser ermüdenden Stunden bekommt sie auch mit, dass Jacob Erklärungen murmelt, warum er nicht zu Hause war. Irgendetwas von einem kaputten Auto. Und er konnte doch nicht ahnen, dass es so schnell gehenwürde. Eine gemurmelte Entschuldigung, die sie von sich weist, die sie weder annehmen kann noch will. Er war nicht da, als es wichtig war, und damit müssen sie leben, sie genauso wie er.)
Sie war über drei Wochen mit Staffan zu Hause (so sollte er heißen, das hatten sie im Voraus bestimmt), es war schon Ende Februar, als sie eines Morgens, nachdem sie ihrem Jungen die Windeln gewechselt, ihn gestillt und in den Schlaf gewiegt hatte, beschloss, den Teil des Wäschebergs in Angriff zu nehmen, der nicht aus Babysachen bestand. Sie schüttete die Schmutzwäsche auf den Küchenboden aus, hockte sich vorsichtig hin (die Naht schmerzte immer noch sehr) und fing an zu sortieren. Sie nahm eins von Jacobs weißen Nylonhemden, fragte sich beiläufig, wann er das getragen hatte, als ein kleines Päckchen aus der Brusttasche fiel. Ein kleines heimliches Päckchen. Aber warum hatte er so etwas jetzt? Er brauchte doch seit zehn Monaten kein Gummi mehr zu verwenden. Sie nimmt das Päckchen in die Hand, öffnet es und sieht, dass von der Viererpackung nur noch eins übrig ist. Sie sieht es an und denkt, dass das etwas ist, was ihr einfach nicht passiert. So etwas gehört in die Welt der Illustrierten und Filme, und dass diese Welt nicht wahr ist, hat sie schon während ihrer Reise mit Lasse Nyman in einer grauen Vorzeit gelernt.
Sie lässt die Schmutzwäsche liegen und läuft in der Wohnung auf und ab. Untreue? In dem Moment, als … Sie bleibt an einem Fenster stehen und starrt auf die Straße. Sie hat den Mut gefasst, klar zu denken, und was sie da sieht, ist ein unglaublicher Betrug. Seit sie vor drei Wochen von der Entbindungsstation kam, hat er sich jeden Tag beeilt, von der Arbeit nach Hause zu kommen, hat die Jacke von sich geworfen und sich ans Bett des Jungen begeben. Die Möglichkeit fremdzugehen bestand mit anderen Worten nur während derTage und Nächte, als sie auf der Entbindungsstation lag. Und an dem Samstagabend, als sie auf dem Sofa saß und das Fruchtwasser abging und sie zu ihrem Entsetzen merkte, dass er nicht nach Hause gekommen war …
Sie starrt aus dem Fenster, und der Betrug ist so groß, dass sie es nicht zu ertragen vermag. Trotzdem steigert sie sich weiter hinein. Niemand kann doch wohl so niederträchtig sein fremdzugehen, während seine Frau das gemeinsame Kind zur Welt bringt? Niemand …
Sie stopft die Schmutzwäsche zurück in die Papiertüten. Das Päckchen mit dem einzelnen Gummi wirft sie auf den Tisch im Wohnzimmer, genau an die Stelle, auf die er immer seine Kaffeetasse stellt, bequem zur Hand, wenn er sich ausstreckt und fernsieht.
Ich sage nichts, denkt sie, und dann wiederholt
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