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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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vertraut.
    Der Mann musste also schon aus diesem Grund, genauso wie Kern gesagt hatte, jung sein. Vielleicht, wie Samuel, um eine gewisse Hipness bemüht. Aber das war nicht sicher. Vielleicht war der Mann auch ein ganz anderer Typ, viel älter als er, und Sam hatte ihn trotzdem bewundert – wegen irgendetwas, von dem sie nichts wussten. Oder vielleicht war er nur sein Dealer, und die beiden verband aus Sams Sicht sonst gar nichts. Vielleicht hatten sie nie ein privates Wort gewechselt.
    Irgendwo war der Wurm drin. Dieser Täter manifestierte sich einfach nicht, nirgends.
    Ein Phantom.
    Sonja Martinez. Mona öffnete ihre Akte und begann zu lesen. Ihre feuchten Finger produzierten fettig aussehende Flecken auf dem dünnen Papier.
    Sonja Martinez war vermutlich ein Zufallsopfer. Dem Täter ging es nicht um ihre Person, sondern um die Tatsache, dass sie eine Klientin Plessens war. Ihren Namen hatte er der Abendzeitung entnommen und sie daraufhin – außer ihr gab es in der Stadt niemanden, der so hieß – mühelos aufgespürt. Er wusste aus der Zeitung, dass Sonja Martinez allein lebte, nachdem Mann und Tochter sie verlassen hatten. Unter irgendeinem Vorwand – keine Kampfspuren welcher Art auch immer! – hatte er sich Einlass verschafft.
    Von Forster stammte die Idee, dass der Täter vielleicht so getan hatte, als sei er Arzt. Mona hatte das sehr überzeugend gefunden. Sonja Martinez ging es vor ihrem Tod nicht nur seelisch schlecht, auch körperlich war sie laut Aussage ihres Mannes und mehrerer anderer Zeugen angeschlagen gewesen. Vielleicht hatte dieser Mann so getan, als wäre er eine Art Notarzt, den irgendjemand – vielleicht Sonjas Mann, der zu diesem Zeitpunkt unerreichbar in Spanien weilte – aus Sorge um Sonjas Gesundheit benachrichtigt hätte. Sonja war nicht in der Position, misstrauisch zu sein. Sie war unglücklich und verzweifelt und vermutlich sogar für jeden Besuch dankbar. Man konnte ihr erzählen, was man wollte, sie hätte alles geglaubt.
    Es war nicht schwer gewesen, ihr Vertrauen zu erringen.
    Ein Übungsobjekt.
    Mona erschauerte. Täter wie dieser Mann waren selten. Serienmörder waren oft entweder komplett verrückt oder sehr dumm oder beides. Aber es gab auch andere. Sie konnten es zur schauerlichen Meisterschaft bringen, und dann stand die Polizei lange Zeit auf verlorenem Posten. Sicher, irgendwann bekam man fast jeden. Manche aber leider erst nach einer entsetzlich langen Blutspur. Und das waren die Fälle, die sich über Wochen und Monate zogen, manchmal über Jahre, die die Öffentlichkeit aufschreckten, die Medien auf den Plan riefen und niemanden mehr zur Ruhe kommen ließen. Mord war so verdammt telegen. Die Seuchen würden sie früher oder später unter Kontrolle kriegen. Krebs würde irgendwann besiegt sein, aber Morde würde es immer geben. Aus Verzweiflung, Habgier, Gemeinheit, abseitigen Bedürfnissen. Mord war die dramatischste und gleichzeitig effizienteste Möglichkeit, einen Konflikt ein für alle Mal zu beseitigen.
    Menschen liebten einfache Lösungen. Und Mord war ganz einfach.
    Sie hatte noch genau neun Tage. In neun Tagen war ihr Flug in den Urlaub gebucht.
    Wenn es so weiterging, würde sie lange keinen Urlaub mehr haben.

13
    1988
    Sie hatte lange, glatte, dunkle Haare. Ihre Zähne leuchteten, wenn sie lächelte und ihr Busen war groß und fest. Sie war neu in der zehnten Klasse, die der Junge nun besuchte. Sie trug enge Oberteile und West-Jeans, die sofort als solche zu erkennen waren. Die Blicke des Jungen sogen sich an dem Mädchen fest, wenn sie mit wippenden Brüsten, perfekten Schenkeln und diesem wunderschön gebräunten Gesicht, das immer ein Lächeln zeigte, das Klassenzimmer betrat (extra ihretwegen war er plötzlich überpünktlich). Wenn sie sich setzte und ihr Haar zurückwarf, mit immer derselben schnellen, dynamischen Bewegung, schob sich ihr T-Shirt nach oben und ein schmaler Streifen Haut kam zum Vorschein.
    Der Junge registrierte nicht, dass er sich genau das Mädchen ausgesucht hatte, in das alle anderen Jungen in der Klasse ebenfalls verliebt waren. Der ganze Raum schien zu vibrieren, wenn sie anwesend war. So aufmerksam er sonst als Beobachter war, diese keinesfalls unwesentliche Kleinigkeit entging ihm: dass sie die Wahl hatte. Kein Mädchen, das die Wahl hatte, hatte sich je für ihn entschieden. Eine einfache, bittere Erfahrung, der sich der Junge bereits gestellt und aus der er seine Konsequenzen gezogen hatte. Mit der zweiten oder dritten

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