Damit Dein Leben Freiheit Atmet
Tod unrein geworden ist. Da spielen die gleichen Vorstellungen von rein und unrein eine Rolle, wie sie in Ägypten und Griechenland verbreitet waren. Aber es gab in Israel auch Reinigungsriten mit einer gesellschaftlichen Dimension. Beim Sündenbockritual legte man all das Unreine des Volkes auf das auserwählte Tier und stieß es in die Wüste, damit es die Verfehlungen des Volkes aus der Gesellschaft
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ausscheide. Israel hatte ein Gespür dafür, daß sich ein Volk verunreinigt, wenn es von Gottes Wegen abweicht. Und Israel hatte das Bedürfnis, die Atmosphäre der Gemeinschaft zu reinigen, indem es den Sündenbock in die Wüste schickte.
Die sittliche Bedeutung der Reinheit wurde vor allem in der griechischen Philosophie entfaltet. Dort geht es um die Frage, wie der Mensch diese innere Reinheit erlangen kann. Die Griechen sprechen von der »Katharsis«, vom Reinigungsprozeß.
Für die philosophische Schule der Pythagoreer geschieht die Katharsis durch die Musik und die Mathematik. Die Seele ist Harmonie. Wenn diese Harmonie gestört ist, wird sie unrein.
Die Leidenschaften stören die innere Harmonie. Sie zerbrechen den inneren Rhythmus der Seele. Die Musik und die
Mathematik stellen die innere Harmonie wieder her. Indem sie die Beziehungen zwischen den einzelnen Bereichen der Seele wiederherstellen, heilen sie die Leidenschaften. Dadurch wird die Seele gereinigt. Indem die Seele durch die Musik in ihre ursprüngliche Bewegung gelangt, wird sie von den schädlichen Auswirkungen der Affekte befreit. So meint es der berühmte Arzt Theophrastos in der Tradition des Pythagoras. Wenn die Leidenschaften harmonisch zusammenklingen, ist die Seele in reinem Zustand. Wenn die Leidenschaften und Emotionen sich verselbständigen und ihr e eigenen Töne hervorbringen, erzeugen sie einen Mißklang und beschmutzen die Seele. Wir sprechen in der Musik von reinem Klang. Für die Pythagoreer war der reine Klang Ausdruck einer reinen Seele. Wer ein Musikinstrument spielt, weiß, wie reinigend es auf die Seele wirken kann, den reinen Ton zu spielen. Und wer singt, spürt in seiner Seele die reinigende Wirkung, wenn er »sauber« singt.
Platon beschreibt die Hebammenkunst des Sokrates. Sokrates spricht mit den Menschen und lockt aus ihnen die Wahrheit hervor. Indem die Menschen von sich und ihrer inneren Wirklichkeit sprechen, geschieht Reinigung. Sie werden frei von
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Projektionen und Illusionen und kommen immer mehr in Berührung mit ihrem wahren Wesen. Der Philosoph ist wie eine Hebamme, die bei der Geburt des inneren Kindes, des wahren Selbst, helfend beisteht. Die Wahrheit ist schon in uns. Davon ist Platon überzeugt. Doch sie ist oft genug verstellt. Durch das Gespräch und durch philosophische Reflexion kann sie wiederhergestellt werden.
Ausführlich hat sich Aristoteles mit der »Katharsis«
beschäftigt. Der Tradition nach war er der Sohn eines Arztes.
Und er hat die Reinigungskuren, die sein Vater als Arzt verschrieben hat, in die Philosophie eingebracht. Für ihn ist vor allem das Theater der Ort, an dem die Zuschauer Reinigung erfahren. Die Tragödie ruft im Zuschauer Mitleid (»eleos«) und Furcht (»phobos«) hervor. Dadurch kommt es zur Reinigung von seinen Affekten. In der Tragödie werden ja oft sehr starke Leidenschaften und Affekte dargestellt, wie Haß, Wut, Eifersucht und Rache. Indem die bedrängenden Emotionen auf der Bühne zur Darstellung gebracht werden, wird ihnen ihre Macht genommen. Aristoteles schreibt diese reinigende Wirkung der Tragödie dem Rauschzustand und der Lust zu, die durch die Darstellung im Menschen bewirkt werden. Dadurch kommt es wie bei einer psychotherapeutischen Kur zur Abfuhr von überschüssigen Affekten und zu einer lustvollen Erleichterung. Gotthold Ephraim Lessing hat diese Theorie des Aristoteles übernommen. Er versteht die Katharsis als
»moralischen Endzweck« der Tragödie. Durch sie wird der Zuschauer von seinen Leidenschaften gereinigt und diese werden »in tugendhafte Fertigkeiten« verwandelt. Gerade die Reaktionen von Mitleid mit den Menschen, die Opfer
zerstörender Leidenscha ften werden, und von Furcht über die Zerstörungskraft der menschlichen Seele befreien den Zuschauer von seinen eigenen destruktiven Leidenschaften. So bewirkt das Zuschauen bei der Tragödie die Katharsis der Seele.
Der Zuschauer geht gereinigt und geläutert nach Hause.
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Die stoische Philosophie versteht die Katharsis vor allem als Freiheit von Affekten. Ihre Lehre
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