Damon Knight's Collection 08 (FO15)
nicht einmal weiß, welche davon Mara ist. Jetzt erkenne ich, wie die Welt ist. Ich zittere noch immer, aber nun vom Sehen.
Die Königin lächelt. „Nehmt sie“, sagt sie, und sie packen mich und kümmern sich nicht darum, daß ihre Fingernägel in mein Fleisch schneiden und kratzen. Sie bringen mich die lange Treppe hinab, durch die Gänge und zur Tür hinaus, über eine große Wiese und zum Fluß und durch die Wälder, bis wir einen Hügel erreichen. Wir erklimmen ihn, und oben sagt eine Schwester: „Setz dich.“ Sie reicht mir Fleisch und ein Stück Brot. „Du mußt jetzt hier bleiben“, ermahnt sie mich. „Du mußt warten.“ Sie wenden sich alle zum Gehen, aber eine, die sich von den anderen nicht unterscheidet, dreht sich noch einmal zu mir um. „Ich bin Mara“, sagt sie, „und du mußt hierbleiben und warten.“ Und damit geht auch sie.
Ich sitze und schaue. Ich glaube, sie haben mich verlassen, damit ich hier sterbe. Ich habe gesehen, wie die Königin mich haßt, aber trotzdem ist es eine wunderbare Gabe, sehen zu können. Ich schaue mich um und erkenne ein Eichhörnchen, einen Vogel, einen Käfer, und die Erinnerung daran kehrt zurück.
Bald sinkt die Sonne tiefer und die Vögel zwitschern lauter. Es wird kühl. Ein Kaninchen hoppelt nahe bei mir vorbei und sucht sich Futter. Da springt plötzlich etwas von einem Baum in meiner Nähe, lautlos wie ein Fuchs, aber ich sehe ihn. Ich springe auf. Ich habe so ein Geschöpf noch nie erblickt, aber ich weiß, was es ist. Ich habe die Bezeichnung noch nie gehört, außer geflüstert in den Gängen zu Hause. Ich habe nicht daran geglaubt, daß es so etwas geben könnte. Hochgewachsener, breitschultriger als ich, als wir alle. Bruder im Geist der Ziege. Es ist ein Mann. Jetzt weiß ich, wofür die Schuhe gedacht sind, und ich wende mich ab und renne, aber von zu Hause weg und in die Hügel hinein.
Es dunkelt, während ich renne, und dann geht der Mond auf und ich renne weiter in eine Gegend, wo die Hügel steiler, die Bäume seltener und die Felsen schärfer sind. In den Schuhen ist mir nicht Angst vor den spitzen Steinen oder den steilen, glatten Abhängen, denn die Schuhe kleben wie Fliegen an den Wänden, und ich krabble hinauf wie eine Eidechse. Nie in meinem Leben bin ich so gerannt. Ich bin so geschmeidig wie Wasser. Nichts kann mich aufhalten. Meine Schritte sind so leicht wie eine Sommerbrise. Meine Augen fliegen mit mir, und sie sehen alles.
Dann erreiche ich den steilsten Abfall. Er kann nicht in meiner unmittelbaren Nähe sein, denn sogar ich mit meinen Zauberschuhen keuche, aber ich halte mich an der Baumgrenze, wo die Bäume verkrüppelt und niedrig gewachsen sind.
Da ist eine Kuhle, weich mit Kiefernnadeln ausgepolstert. Ich lege mich hinein, um mich zu verstecken, und schaue zum Mond auf. Ich habe keine Angst vor dem Wald bei Nacht. Er ist nicht so dunkel wie die Blindheit.
Schwer atmend liege ich da, und als meine Atemzüge ruhiger werden, höre ich noch immer Keuchen. Ich wende den Blick vom Mond ab und sehe das Geschöpf; Mann, ebenso erschöpft wie ich daliegen. Ich beobachte ihn, bis er die Augen schließt, und da schließe ich auch die meinigen. Ich bin weit gelaufen. Ich denke an nichts mehr, träume von nichts mehr. Im ersten Morgenschein berührt der Bruder im Geist der Ziege meine Brust und weckt mich auf. Mein Zorn vom Vortag hat sich gelegt. Ich bebe. Die Finger des Mannes sind kräftig, wie die goldenen Schnüre, die die Hängematten tragen. Seine Hände sind nicht so trocken und kühl wie die meiner Schwestern. Er reißt mir die grünen Gewänder vom Leib, und ich spüre an meinem Nacken die rauhen Haare neben seinem Mund. Ich schließe die Augen und meine einen Augenblick lang, ich würde aufgefressen, aber dann habe ich wieder das Gefühl, wie eine Eidechse die Berghänge hinaufzueilen, und der Mann schnaubt wie ein Löwe in mein Ohr.
Nachher rollt er auf den Rücken und betrachtet den Morgenhimmel. Schnell, ehe es zu spät ist, breche ich den anderen Dolch auf, packe die beiden und steche mit beiden zweimal auf ihn ein. Er röhrt wie ein großer Vogel und kauert sich dann wie ein Wurm zusammen. Dann ruhe ich mich eine Weile aus.
Ich verstehe jetzt. Natürlich haßt mich die Königin, aber sie wird gut für mich sorgen und für die anderen, die wie ich sind. Und ich hasse sie, aber sie irritiert mich nicht mehr. Ich bin glücklich und entspannt. Ich ruhe, und später höre ich, wie meine Schwestern mir entgegenkommen
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