Damon Knights Collection 9
Buchstaben sorgfältig gemalt und zittrig, mit zuviel Druck aufgesetzt, so daß das Papier hier und da durchbohrt ist, die Rückseite gleicht einer Blindenschrift.
Er ist kurz und wirr, wie ich es erwartet habe; ein Schrei nach Befreiung von Jenen, ein Gebet an ein taubes Kind, das zum Gott wurde oder zumindest zur Mutter, um Vergebung. Statistik: jährlich werden fünfzigtausend getötet, und sie war eine davon, und 1,9 Millionen entmündigt, und er war einer davon. Tragen alle Entmündigten an dieser Last von Schuld, die ihn täglich quält? Er ist Prometheus, sein Bett der Felsen, seine Schuld die verzehrenden Adler. Die Götter tragen weiße Kittel und magische Ruten, mit denen sie ihn des Nachts erneuern, damit er tagsüber sterben möge.
Warum kommt der Sturm nicht?
Ich warte auf den Sturm und gehe schließlich doch nicht zum See hinunter. Nächstes Mal, sage ich mir, und lasse das Kanu auf dem Wagen. Ich mische mir einen Gin-Tonic und kehre damit in den Hof zurück, wo sich inzwischen nichts mehr bewegt. Ich starre zur Esche hinaus; sie ist so hoch und gerade gewachsen in den zwanzig Jahren, seit wir sie pflanzten. Ich erinnere mich an den Blitz, der den Kirschbaum traf, der einst dort stand, an die weißen Holzsplitter, die ich hinterher überall im Hof aufsammelte. In der darauf folgenden Woche brachte Vater einen zarten Eschensteckling mit, und sehr feierlich pflanzten wir ihn an dieselbe Stelle. Ich weinte, weil es nicht wieder ein Kirschbaum war. Ich lächle, als ich mich an meine Tränen und Trotzanfälle und das Baumpflanzritual erinnere. Mit acht war ich zu alt für Tränen und Trotzigkeit, doch weder Vater noch Mutter protestierten. Ich sitze im Hof und lasse die Vergangenheit durch mich hindurchgleiten, ohne zu versuchen, ihren Strom zu bremsen.
Um sechs ziehe ich mich zum Essen mit Dr. Warren und Norma um. Das ist unser neues Ritual. Am ersten Abend daheim speise ich mit dem Doktor und seiner Frau. Ich glaube, sie sind sehr allein, obwohl keiner von beiden etwas sagt. Ich gehe durch die ruhige Stadt, die dem Abend entgegendöst, die wenigen noch bewohnten Häuser sind verdunkelt und verschlossen wegen der Hitze. Norma hat vor Jahren eine Klimaanlage installieren lassen, und ich fröstle beim Eintreten. Norma führt mich zur Rückseite, zur Glasveranda, die mit Wein und Kletterpflanzen mit gelben, roten und weißen Blättern bewachsen ist. Tintenblaues Wasser plätschert in einem ulkigen Springbrunnen über große emaillierte Meeresmuscheln. Ich zögere an der Verandatür. Dr. Staunton ist da, in seiner Hand ein Glas mit Normas Sommerspezialgetränk aus Lindensaft, Rum, Honig, Sodawasser und Gott weiß was alles. Er redet sehr ernsthaft auf Dr. Warren ein, und beide erheben sich, als sie mich erblicken.
„Miss Matthews, wie nett, Sie wiederzusehen.“ Dr. Staunton verbeugt sich leicht, und Dr. Warren zieht für mich einen Korbstuhl neben den seinen. Er reicht mir ein Glas.
„Edgar hat mir von der Untersuchung erzählt, die er hier mit den Jungens macht“, sagt Dr. Warren.
Edgar? Ich nicke und nippe an dem Saft.
„Ich bat gerade Blair um seine Mitarbeit“, sagt Edgar Staunton und lächelt, doch nicht von innen heraus. Ich bezweifele, ob er das überhaupt kann.
Blair. Ich starre Dr. Warren an, der für mich immer Dr. Warren bleiben wird, und wundere mich über die rasche Vertrautheit. War er die ganze Zeit so einsam, daß er dem erstbesten Fremden erliegt, der kommt, ihn wie einen Doktor behandelt und um Hilfe bittet?
„Worüber arbeiten Sie, Dr. Staunton?“ fragte ich.
Er bittet mich nicht, ihn beim Vornamen zu nennen. Er sagt: „Ich bin hier mit einigen meiner Doktoranden, die sich für Träume interessieren, und wir wählten Ihre Stadt als ein mehr oder weniger kontrollierbares Milieu. Vielleicht sind auch einige der Einheimischen an einer Teilnahme interessiert.“
Vampire, denke ich. Sie schlafen tagsüber, bewaffnen sich des Nachts mit Elektroenzephalographen, beobachten die Elektroden, lesen die Aufzeichnungen, saugen das Innenleben der Freiwilligen aus, mästen sich an ihren Wünschen und Ängsten …
„Wie genau stellt man eine Untersuchung über Träume an?“ frage ich.
„Was wir von den Bürgern Ihrer Stadt wünschen, ist nur ein einfacher Bericht über ihre Träume, die am Morgen beim Erwachen noch in Erinnerung sind. Bevor sie aufstehen, wäre es schön, wenn sie von ihren Träumen alles das notieren würden, was ihnen noch bewußt ist. Selbstverständlich bleiben
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