1383 - Hexenfriedhof
Das Blut war über die Unterlippe getropft. Es klebte jetzt am Kinn, was Elvira auch spürte. Sie hob mühsam den rechten Arm und damit auch ihre Hand, mit deren Fingern sie das Tuch festhielt. Der Stoff war schon mit Blut getränkt. Trotzdem wischte sie damit über ihr Kinn, weil sie hoffte, es von dem roten Schimmer zu befreien.
Elvira lag in einem halbdunklen Raum. Die beiden Vorhanghälften waren zugezogen und bedeckten das einzige Fenster. Allerdings nicht völlig, denn zwischen ihnen befand sich ein handbreiter Spalt, damit sich das Tageslicht einen Weg bahnen konnte. Viel war es nicht. Es verlor sich auf dem Boden, der ansonsten dunkler war. Es gab zwei einfache Stühle, eine Waschgelegenheit und nicht weit davon entfernt einen Schrank.
Die alte Hexe hatte es so gewollt. Diesen und keinen anderen Ort hatte sie sich zum Sterben ausgesucht, auch wenn andere dagegen gesprochen hatten. Sie wollte einfach hier liegen und abwarten, bis die Seele ihren Körper verließ.
Um sie herum war es still. Ab und zu erhielt sie zwar Besuch, wenn man nach ihr schaute. In der Regel aber war sie allein. Sie hätte es auch anders haben können, doch das wollte sie nicht. Es gab Stunden im Leben, da musste der Mensch allein sein.
Der nächste Hustenanfall folgte. Er hörte sich schlimm an. Abgehackt und trocken, doch zumindest drang kein Blut aus ihrem Mund. Sie schluckte nur den dicken Speichel wieder.
Der Anfall hatte sie angestrengt und den Körper durchgeschüttelt.
Ermattet sank sie wieder zurück auf die durchgeschwitzte Unterlage. Sie war froh, so liegen bleiben zu können. Aufstehen bereitete ihr Mühe, das schaffte sie nur, wenn sie Hilfe bekam, und sie tat es auch nur, wenn sie ein menschliches Bedürfnis verspürte.
In den Spiegel wollte sie auch nicht mehr schauen. Elvira hätte nur ein zerknittertes Gesicht gesehen mit eingefallenen Wangen, einen lappigen Mund und einer Haut wie die von einem Stück Geflügel. Es hatte sich so vieles verändert in all den langen Jahren, doch eines war gleich geblieben.
Die Klarheit im Kopf!
Elvira wusste genau, was sie tat. Bis vor kurzem hatte sie noch mitbekommen, was in der Welt los war und welche Veränderungen es dort gab, die sie betrafen.
Sie hatte von schlimmen Dingen gehört, von den Kämpfen Gut gegen Böse oder Himmel gegen Hölle. Sie wusste von der Schattenhexe Assunga und von einem mächtigen Dämon, der als riesiges Schattenskelett im Hintergrund lauerte.
Elvira hatte lange darüber nachgedacht und auch keinen Menschen eingeweiht. So kannte niemand ihre Gedanken und auch nicht die Folgerungen, die sie daraus gezogen hatte. Aber sie war sich darüber im Klaren, dass etwas passieren musste, und so hatte sie nach reiflicher Überlegung einen Entschluss gefasst. Sie war nun auch bereit, ihn in die Tat umzusetzen. Es musste schnell gehen, denn eigentlich hatte sie schon zu lange gewartet.
Der erneute Hustenanfall unterbrach ihre Gedanken. Wieder sickerte etwas Blut aus ihrem Mund, doch nicht eine so große Menge wie beim vorletzten Mal.
Sie wischte die wenigen Tropfen trotzdem weg und führte die linke Hand der Wand entgegen, wo man für sie eine Klingel angebracht hatte. Den Knopf fand sie schnell, drückte ihn und hörte selbst das Geräusch nicht. Aber sie wusste, dass ihr etwas Zeit blieb, um sich alles noch mal durch den Kopf gehen zu lassen.
War die Entscheidung richtig?
Elvira fand einfach keine Antwort auf diese Frage. Das würde die Zukunft erweisen. Aber es würde eine Zukunft ohne sie werden. Sie würde nicht mehr miterleben, ob sie das Richtige getan hatte. Nur musste sie etwas unternehmen, alles andere wäre fatal.
Es gab keinen, der ihr hätte einen Rat geben können. Alles musste sie mit sich allein ausfechten. Wenn sich die Tür öffnete, gab es kein Zurück mehr.
Sie wartete, und die Stille um sie herum kam ihr jetzt noch tiefer vor. Auch von draußen war kein Geräusch zu hören. Niemand störte die Ruhe der Sterbenden.
Bis sie das leise Klopfen an der Tür hörte. Ihre Antwort bestand mehr aus einem Krächzen, das auf der anderen Seite der Tür allerdings gehört wurde, denn jemand öffnete sie vorsichtig.
Und ebenso vorsichtig bewegte sich die Person in den Raum hinein. Sie bemühte sich, nicht zu hart aufzutreten, und Elvira, die den Kopf gedreht hatte, flüsterte: »Du kannst es ruhig etwas heller machen, Lucy, dann kann ich dich besser sehen.«
»Gut, mach ich.«
Eine Frauengestalt bewegte sich auf das Fenster zu. Hände zogen die
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