Dance of Shadows
aufgekommen. Die Klänge waren ungewohnt, die Akkorde dissonant und unnatürlich. Als die Tänzer begannen, sich zu der merkwürdigen Musik zu verdrehen, wurde es dem Publikum immer unbehaglicher zumute. Die Leute hielten sich die Ohren zu oder wandten den Blick ab. Im Zuschauerraum erhob sich zunächst ein Gemurmel. Dann begannen die einen zu buhen, die anderen schrien die Tänzer aufgebracht an. Die Leute standen auf und warfen aus Protest ihre Programmhefte auf die Bühne. Eine Gruppe Frauen in der vordersten Sitzreihe verfiel ineinen merkwürdigen hysterischen Anfall, was das übrige Publikum noch mehr erschreckte.
Vanessa betrachtete interessiert eine Zeichnung des Aufruhrs. Die Gesichter der Menschen jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Sie sahen wild und besessen aus, als ob etwas von ihnen Besitz ergriffen hätte und sie nicht mehr losließe.
»Ganz schön finsteres Zeug, was du dir da ansiehst«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Vanessa fuhr mit einem Ruck hoch und stieß dabei einen Stapel Bücher vom Fensterbrett. Sie versuchte sich zu beruhigen, stand auf und sah die dunkelblonde Mähne von Justin, der sich über ihre Bücher beugte, die jetzt auf dem Boden verstreut lagen.
Vanessa pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Machst du dir es jetzt zur Gewohnheit, dich an Leute anzuschleichen? Oder versuchst du nur, mein Tanzen zu sabotieren, indem du dafür sorgst, dass ich einen Herzinfarkt kriege?«
Justin sah zu ihr hoch und grinste schadenfroh. »Was denn, hab ich dich etwa erschreckt?«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte sie und spähte über seine Schulter. »Und wo wir gerade von Erschrecken sprechen: Wo sind denn deine Leibwächter? Am Freitagabend habe ich sie auch nicht in deiner Nähe gesehen, als du Zep und mir auf der Plaza nachspioniert hast. Nimmst du sie denn nicht überallhin mit?«
Noch während sie sprach, hörte sie schwere Schritte, und Nicola und Nicholas Fratelli traten aus dem engen Durchgang zwischen den Bücherregalen. Sie schauten Vanessa ernst an und ließen sich einige Tische weiter nieder, um zu lesen.
Vanessa war peinlich berührt.
»Die beiden?«, fragte Justin. »Wir sind Freunde, weiter nichts. Und neulich abends habe ich dir nicht nachspioniert. Ich war auf dem Weg zu einem Date.«
»Du hattest ein Date?«, fragte Vanessa und war überrascht, wie beunruhigend sie diese Vorstellung fand. »Mit wem denn?«
»Wer spioniert hier denn jetzt?«, fragte Justin grinsend.
»Ich … ich sicher nicht, ich hab mich bloß gefragt … Aber ist ja auch egal.«
Justin zuckte mit den Schultern. »Mit einem Mädchen halt«, sagte er. Er starrte Vanessa mit seinen blauen Augen an und senkte die Stimme. »Niemand Besonderes.«
Vanessa riss sich von seinem Blick los. »Ich … ich muss jetzt los.«
Justin ignorierte sie und schaute sich ihre Bücher an.
»Die bolschewistische Revolution«
, las er laut,
»Russische Komponisten und ihre Musen
,
Danse Macabre und die Ballerina.«
Er hob eine Augenbraue und kicherte. »Wir recherchieren wohl ein bisschen für den
Feuervogel
, was?«
»Allerdings«, sagte Vanessa und schnappte sich das Buch, das er in der Hand hielt.
»Weißt du, dass … «, begann Justin.
» … ich dadurch keine bessere Tänzerin werde«, unterbrach ihn Vanessa schnippisch. »Das sagtest du bereits.«
Justin lehnte sich an die Fensterbank, und Vanessa bemerkte das Spiel seiner Armmuskeln unter seinem Hemd. Sie beherrschte sich und wandte den Blick ab.
»Ich wollte eigentlich sagen, dass du vielleicht mal ein paar Leute fragen solltest, die schon beim
Feuervogel
mitgetanzt haben. Dann kriegst du bestimmt heraus, worum es in Josefs Lieblingsballett wirklich geht.« Justin nahm Vanessas Federmäppchen, das neben ihrer Tasche lag, und es sah so aus, als wollte er es öffnen. Vanessa riss es ihm aus der Hand.
»Lass meine Sachen in Ruhe!«, schnauzte sie ihn an und stopfte das Mäppchen zurück in die Tasche. »Außerdem hab ich das schon versucht.« Sie holte die drei Jahre alte Besetzungsliste aus dem Ordner.»Ich habe keinen von dieser Liste auftreiben können. Hier habe ich sogar noch ältere Besetzungslisten von früheren
Feuervogel-Auf
führungen gefunden. Offenbar hat die Schule das Stück in den letzten beiden Jahrzehnten zwölf Mal auf den Spielplan gesetzt. Das heißt, in einigen Fällen hat sie nur
versucht
, es auf den Spielplan zu setzen. Aber selbst von diesen Tänzern kann ich keine Kontaktdaten finden. Sie sind wie vom
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