Dance of Shadows
rückte auch nur einen Zentimeter beiseite, um Vanessa und ihre Freunde durchzulassen.
Beim Hinsetzen fiel ihr Blick auf eine Gruppe älterer Mädchen, bildschön und groß gewachsen, die mit blasierter Miene in einer Ecke des Saals an die Spiegel gelehnt saßen und miteinander tuschelten. Es waren dreizehn Mädchen, und sie alle hatten einen ziemlichen Sonnenbrand, als kämen sie direkt vom Strand und hätten sich nicht ausreichend eingecremt.
»Wie ich schon sagte«, die Frau vorne räusperte sich, »ich heiße Hilda und bin die Assistentin des Choreografen.«
Vanessa quetschte sich neben Steffie, die leicht nach Vanille duftete. Auch sie hatte die älteren Mädchen bemerkt und spöttelte: »Da haben wohl welche ihr Sonnenschirmchen vergessen.«
Vanessa verkniff sich ein Lächeln, denn Hildas Blick ruhte auf ihr.
»Und nun möchte ich euch Josef, euren Ballettmeister und Choreografen, vorstellen.«
Ein drahtiger Mann mit dem durchtrainierten Körper eines Tänzers trat nach vorn. Auf den ersten Blick sah er jung aus, aber bei näherem Hinsehen schätzte ihn Vanessa auf Ende dreißig.
Hilda trat einen Schritt beiseite, und als Josef lächelte und sich mit der Hand durch das wellige, leicht grau melierte Haar fuhr, sah man seine charmant schief stehenden Zähne. Er trug eine enge schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt , das eine Spur Brustbehaarung sehen ließ. Obgleich er weder groß noch besonders gut aussehend war, erfüllte er mit seiner Ausstrahlung das ganze Studio.
»Ich begrüße euch alle.« Er sprach mit leichtem französischem Akzent. »Hier an der Weltspitze der Tanzkunst. Willkommen.«
Bei seinen Worten schien sich der ganze Saal aufzuhellen. Vanessa sah die anderen Schüler lächeln.
»Jeder Ballettschüler träumt von der New Yorker Ballettakademie, und das zu Recht. Wir sind eine Schule der Träume. Hier werdet ihr lernen, über euch hinauszuwachsen. Ihr werdet euch in Feen, in Prinzen, in Schwäne verwandeln – in weiße und schwarze –, in böse Königinnen und in Dämonen. Ihr werdet schweben wie Wolken und in den Schatten verschwinden. Das Publikum wird das für Beleuchtungstricks halten, ihr alle aber werdet wissen, dass ihr selbst das Licht seid. Ihr selbst seid die Musik. Ihr selbst seid reine Bewegung.«
Im Raum war es mucksmäuschenstill, und Vanessa hörte ihn tief ausatmen.
»Wo ich gerade von Bewegung spreche, will ich nicht verschweigen, dass ein Viertel der Anfänger es nicht bis zum Ende des ersten Schuljahres schafft. Das mag euch jetzt vielleicht überraschen. Ihr habt so sehr darum gekämpft, hierherzukommen, dass ihr euch einfach nicht vorstellen könnt, die Schule abzubrechen.« Er schwieg und ließ den Blick bedeutungsschwer durch den Saal schweifen. »Lasst all eure bisherigen Vorstellungen von Ballett hinter euch, kommt als biegsame, weiche Körper zu den Proben, und seid bereit, euch formen zu lassen.«
Alle blickten verstohlen nach links und rechts und versuchten sich vorzustellen, wer als Erstes aufgeben würde.
»Aber nun genug davon.« Josef klatschte energisch in die Hände. »Jeden Winter bringen wir ein Hauptwerk der klassischen Ballettkunst auf die Bühne. Und voll Stolz kündige ich hiermit an, dass wir dieses Jahr Strawinskys
Feuervogel
aufführen werden.«
Einen Moment lang ruhte Josefs Blick auf Vanessa. Sie meinte, bei ihm Anzeichen eines Wiedererkennens zu entdecken, bevor er den Blick abwandte. Wusste er, dass sie Margarets Schwester war?
»Hauptfigur dieses Balletts ist Prinz Iwan, der in das Zauberreich Kastschejs kommt. Dort fängt der Prinz einen Feuervogel, der ihm seine Dienste anbietet, wenn er ihn später dafür freilässt. Als sich Iwan in eine der dreizehn gefangenen Prinzessinnen verliebt, hilft ihm der Feuervogel, den bösen Zauberer Kastschej zu besiegen und seine große Liebe zu erobern.«
In einem der Spiegel an der Wand meinte Vanessa, etwas Düsteres, Unheimliches vorbeihuschen zu sehen, aber als sie sich umdrehte, saßen alle reglos da.
»Die Premiere findet am 13. Dezember statt. Wir haben jetzt erst September, und das alles scheint noch in weiter Ferne zu liegen; aber ich versichere euch, es ist nicht mehr lange bis dahin. Das Vortanzen findet in einem Monat statt. Die Hauptrollen werden fast immer mitOberstufenschülern besetzt. Als Neulinge dürft ihr also nicht enttäuscht sein, wenn ihr nicht ausgewählt werdet. Eure Zeit kommt erst noch. Bis dahin will ich euch hier an der Ballettstange sehen.
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