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Die Naschmarkt-Morde

Titel: Die Naschmarkt-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Prolog
    Kühl schmiegte sich das Springmesser an die Außenseite seines Schenkels. Bei jedem Schritt rutschte es in der Hosentasche ein Stückchen hin und her und vermittelte ihm ein Gefühl der Macht.
    Durch die schmalen Gässchen der Innenstadt verfolgte er sein Opfer. Als es die Weite des Karlsplatzes überquerte, blieb er bewusst zurück, um keinen Argwohn zu erregen. Gleichzeitig begann sein Puls höher zu schlagen, mit feuchten Fingern tastete er nach dem kühlen Metallgriff des Messers. Jenseits des Karlsplatzes begann die dunkle Zone des Naschmarktes, dort würde er sein Opfer stellen. Zwischen einer Erfrischungsbude und einem gemauerten Stand mit der Aufschrift ›Seefische‹ tauchte seine Beute in eine Schattenwelt ein. Der Weg führte sie durch locker gruppierte Bäume, Büsche und allerlei Marktgerümpel. Linker Hand ragte die düstere Silhouette des Freihauses – ein heruntergekommener Miethauskomplex aus dem 18. Jahrhundert – in den sternenlosen Himmel. Vor dieser Kulisse schwebte wie ein mechanischer Mond die riesige ›Nachtleuchtende Uhr‹. Sie zeigte drei Minuten vor 9 Uhr. Die hallenden Schritte der jungen Frau wurden vom Rauschen der Bäume sowie vom leisen Rumoren der Großstadt untermalt. Sie trug ein bodenlanges Kostüm sowie einen keck auf dem Kopf sitzenden Hut samt Schleier. Außer ihr, einigen Ratten und herumstreunenden Katzen schienen keine Lebewesen das nächtliche Marktareal zu bevölkern. Flinken Schrittes lief der Verfolger über den Platz, kam ihr immer näher, zog das Springmesser und ließ die Klinge mit einem scharfen Klick Abendluft schnuppern. Als er zum Angriff ansetzte, rutschte er auf verfaultem Gemüse aus und stürzte zu Boden. Das Springmesser flog in hohem Bogen weg, eine herumstreunende Katze flüchtete kreischend. Die junge Frau erschrak, hielt kurz inne, blickte sich um und setzte dann, rascher ausschreitend, ihren Weg fort. Ihre anfängliche Sicherheit war einer nervösen Angespanntheit gewichen. Den Blick immer starr vorwärts auf das hohe Gebäude des Theaters an der Wien gerichtet, marschierte sie nun schnell durch die dunkle Gasse, die sich zwischen den Marktständen auftat. Die Lichter der nahen Magdalenenstraße 1 erschienen ihr wie Leuchtbojen eines rettenden Ufers. Ihre Schritte waren nicht mehr locker und unbekümmert, Muskeln und Sehnen waren angespannt, sie trat ziemlich fest auf, das Stakkato ihrer Schritte hallte. Ein einziger Gedanke hatte von ihr Besitz ergriffen: Weg von hier! So schnell wie möglich die unheimliche Szenerie von Schatten, Schirmen, Kisten, Körben und Fässern verlassen. Außerdem war da noch etwas. Sie vermeinte, Schritte zu hören. Dann wieder nicht. Alles nur Einbildung – ein Phantom ihrer Fantasie?
    »Ich bin eine hysterische Blödistin …«, sagte sie halblaut und zwang sich, langsamer zu gehen und tief durchzuatmen. Wer sollte ihr schon folgen? Vielleicht war es auch nur ein Obdachloser, der betrunken zwischen dem Marktgerümpel hin und her torkelte. Das Durchatmen half. Ihre Schritte wurden entspannter. Die dunklen Gespenster verflogen, der Sommerabend umfing sie mit samtiger Geborgenheit. Voll Vorfreude dachte sie an das bevorstehende Rendezvous. Sie bog in das gähnend schwarze Loch eines Durchgangs ein. Plötzlich war es wieder da: das Gefühl, verfolgt zu werden. Gänsehaut. Sie hörte ganz deutlich Schritte hinter sich. Nahe. Ganz nahe. Sie rannte. Ihre Füße bewegten sich mechanisch. Blut pochte in ihren Schläfen. Stoßweiser Atem. Luft, Luft! Der vermaledeite Schleier! Laufen, stolpern, laufen, kollidieren mit einem massiven Körper.
    »Aufpassen, Mädl! Wo rennst denn hin? Welcher Zerberus ist denn dir auf den Fersen?«, scherzte der weißhaarige Herr, in dessen kugelförmige Gestalt sie hineingerannt war. Ihre Finger krallten sich in den Stoff seines Sakkos. Sie presste, um Atem ringend, hervor: »Ich werd verfolgt …!«
    Der Mann sah sich um, konnte aber außer ein paar Papierfetzen, die von einem plötzlichen Windstoß aufgewirbelt wurden, nichts Ungewöhnliches entdecken.
    »Da is’ nix«, stellte er beruhigend fest. »Aber ich geh eh hinüber ins Café Dobner. Bis dorthin begleit ich dich. Dort sind dann wieder mehr Leut’ auf der Straße. Da brauchst nachher keine Angst mehr zu haben …«
    Im Schatten eines Marktstandes kauerte ein Mann. Das Messer war weg, seine Finger umklammerten einen Seidenschal. Heute hatte er Pech gehabt, aber früher oder später würde er es schaffen – allerdings nicht mit

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