Danielle Steel
Joe verlangt, dass er es mit all dem Schm erz, der ihr als kleinem Mädchen zugefügt worden war, aufnahm. Das war für ihn unmöglich gewesen. Und sie hatte ihrerseits seine seelischen Verletzungen nicht heilen können, während sie mit sich selbst befasst war. Sie waren beide unreif gewesen, und Joe hatte keinen anderen Weg gesehen als die Flucht. Trotzdem liebte Kate ihn, und die Suche nach sich selbst hatte ihr gut getan. Joe erschien pünktlich u m fünf Uhr m it den Papieren in der Hand. Zuerst war er verlegen, was Kate an ihre erste Begegnung erinnerte. Sie hielt sich in sicherer Distanz zu ihm und m achte keinen Versuch, ihn zu umarmen. Sie setzten sich und unterhielten sich zunächst über die Kinder. Dann erzählte Joe
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von seiner Arbeit und dem neuen Flugzeug, das er gerade plante, ein em Traum seit lange r Zeit. Kates Träume hingegen waren anderer Natur: Sie träumte von Joe. Wie leicht war es doch, ihn so zu lieben, wie er war. Es entzü ckte sie, wie er anfangs ein wenig steif da saß und dann langsam auftaute. Eine Stunde war vergangen, als Kate ihm endlich einen Drink anbot. Joe lächelte begeistert, und Kate hätte am liebsten die Arme um ihn gelegt und ihm gesagt , wie s ehr sie ihn liebe, doch sie wagte es nicht. Sie saß ihm gegenüber und bewunderte ihn aus der Entfernung, als sei er eine Kostbarkeit, die man zwar ansehen, aber nicht berühren durfte. Joe wollte es so. Er würde es nicht zulassen, dass sie ihm noc h einmal zu nahe kam. Nur insgeheim durfte sie an ihn de nken und ihrer Fantasie freien Lauf lassen.
Es war schon beinahe acht, als Joe aufbrach. Kate hatte die Papiere unterschrieben. Doch am folgenden Tag schon rief Joe erneut an. Seine Stimme klang unsicher wie eh und je, aber diesmal entspannte er sich schneller. Er verschluckte sich jedoch beinahe, während er sie zum Lunch einlud. Kate war fassungslos. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ihn ihr Bild die ganze Nacht lang verfolgt hatte. Sie lief durch seine Träu me, wie er sie immer geliebt hatte. Und er hatte sich nicht vor ihr gefürchtet. Er wusste nicht, ob sie ihm ihre Unabhängigkeit nur vorspielte oder ob es tatsächlich so war. Er war fast davon überzeugt, dass in Kate eine tief greifende Veränderung vor sich gegangen war. Sie hatte nicht mehr jene unglückliche, vorwurfsvolle Ausstrahlung, sondern schien mit sich selbst im Reinen zu s ein. Er erinnerte sich wieder daran, was er alle s an ihr geliebt hatte, und fragte sich, ob sie nicht doch Freunde werden könnten.
»Zum Lunc h?« Kate war mehr als überrascht.
Natürlich fand auch sie den Gedanken an ein gemeinsames Essen geradezu unwiderstehlich. Sie fürchtete sich zwar ein wenig davor, dass das Treffen sie zurückwerfen könnte, doch es
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spielte im Grunde keine Rolle: Si e liebte ihn ohnehin, sie hatte nichts zu verlieren. Der Trennungsschmerz würde vielleicht zu neuem Lebe n erweckt werden, doch sie vertraute darauf, dass sich alles zum Guten wenden wü rde. Sie erkannte, dass dies auch daran lag, dass sie sich selbst inzwischen m ehr zutraute. Was auch immer das Leben für sie bereithielt, sie würde es damit aufnehmen. Diese neue Lebenseinstellung entging auch Joe nicht.
Zwei Tage später trafen sie sich zum Lunch im Plaza, und am folgenden Wochenende unternahmen sie einen gemeinsamen Spaziergang im Central Park. Si e sprachen ganz offen über das Chaos, das sie gemeinsam angerichtet hatten, darüber, was sie verloren hatten. Kate nutzte die Gelegenheit, Joe um Verzeihung zu bitten. Seit Monaten schon hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Sie wollte ihm end lich erk lären, wie es in ihr ausgesehen hatte und dass sie ihre Fehler bedauerte. Sie hatten sie lange genug gequält. Während des vergangenen Jahres hatte sie sich unzählige Male für ihr oft schändliches Verhalten gescholten. Und so hatte sie allmählich begonnen, auch Joe seine Fehler zu vergeben.
»Ich war oft so dumm, Joe. Ich habe einfach nichts begriffen. Ich habe mich nur an dich geklammert, und je mehr ich das tat, desto eifriger wolltest du davonlaufen. Ich weiß nicht, warum ich das damals nicht erkannte. Ich habe lange gebraucht, es mir einzugestehen. Wenn ich es doch nur früher erkannt hätte …« Nun, da sie wusste, wie groß seine Furcht vor Verpflichtungen, Schuldgefühlen und Streitereien war, schien es ihr ein W under, dass er es überhaupt so lange mit ihr ausgehalten hatte. »Ich habe auch viele Fehler gemacht«, gab Joe zurück. »Aber ich habe dich
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