Danke für meine Aufmerksamkeit: Roman (German Edition)
musizieren. Vielleicht weiß der eine oder andere, wovon ich rede, wenn es mit dem Rhythmus klappt, dann klappt es auch untenrum. So schlüpfrig wollte ich gar nicht werden. Entschuldigung.
Der Partner muss gar nicht zwangsläufig ein Musiker sein, es reicht eine rein private Leidenschaft fürs Musikalische. Tim zum Beispiel liebte die Percussion, ohne damit jemals größere Ambitionen verbunden zu haben. Er klopfte lediglich auf allem herum, das sich ihm in den Weg stellte, und zumindest mich befiel dann regelmäßig eine Tanzwut, die ich augenblicklich auslebte. Ausleben musste. Ich hätte gar nicht anders gekonnt, Tims Rhythmus erreichte sofort meine Hüften, ich will es ganz deutlich sagen: meinen Unterleib. Sie sind doch alle keine Kinder mehr, was soll denn das Gedruckse! In dieser Hinsicht waren wir also ein wunderbares Paar.
Ach, Tim. Manchmal begegnete er mir noch in meinen Träumen. Das verlief immer gleich: Der Traum begann mit Ferdinand, der sich zunächst an der Stirn, dann im Fell, dann in der Statur in Tim verwandelte.
Beim Aufwachen brauchte ich einen Moment, um zu mir zu kommen.
Es war wie ein Anklopfen von Tim. Ganz auf machte ich die Tür jedoch nie. Ich wollte mit Ferdinand glücklich sein.
Ach was, ich war mit Ferdinand glücklich!
Wir machten richtig Rabbatz!
Obwohl wir nur zu acht waren, konnte uns einfach niemand nicht bemerken. Wir skandierten laut, unterstützt von Transparenten:
»Free Legasthenics! Free Legasthenics!«
In ein paar Hundert Metern würden wir an der Ecke Breite Straße/Appellhofplatz ankommen und dort einen kleinen Infostand zum Thema aufbauen.
Unsere Versuche, im kleineren Rahmen eine Veränderung der Richtlinien für die Rechtschreibung von Legasthenikern zu erwirken, waren allesamt gescheitert.
Ich hatte versucht, meinen Draht zur Schulbehörde wieder aufzunehmen, aber der freundliche, wichtige Dezernent oder Referent oder wer das auch immer gewesen war, Herr Röther, war nicht mehr aufzufinden. Mehrfach hatte ich dort angerufen, während Paul den Apparat auf »laut« gestellt hatte, aber alle Vorzimmerdamen, die ich durchtelefonierte, ließen mich wissen, dass es einen Herrn Röther nicht gebe. Zum Schluss fragte ich mich schon, ob ich nicht ganz richtig tickte. So ein Mann konnte doch nicht plötzlich vom Erdboden verschluckt werden, aber vielleicht hatten die den ja nach einer ihrer vielen Kaffeepausen auch einfach im Keller verscharrt? Dann durfte den natürlich keiner mehr kennen.
Na ja, jedenfalls waren wir in Sachen Legasthenie keinen Schritt weitergekommen, da auch auf die Einreichung unserer acht Unterschriften beim Landtag nie jemand reagiert hatte.
Jetzt zogen wir da mitten durch die Innenstadt und riefen laut: Hopp, hopp, hopp, Buchstabenterror stopp! Einige Passanten blieben auf der Straße stehen, und als wir an eben genannter Ecke unser Klapptischchen aufgestellt hatten, gesellten sich nicht wenige zu uns.
Das war ganz schön aufregend.
Auf Flugblättern hatten wir ein kleines Foto von Paul gedruckt und ihn darunter in seiner Schreibweise dem Volk mitteilen lassen:
Ich binn Paul. Bite helfn sie mir. Sie könn was tun! Führ mich unt vile andre Kinda inn Not!
Das Foto von Paul drückte total auf die Tränendrüse, weil wir so lange geknipst hatten, bis er das richtige traurige Gesicht gemacht hatte. Dazu hatten wir ihm auch ein bisschen schlimme Sachen erzählt, aber da heiligte der Zweck die Mittel, fand Paul auch selbst.
Und beinahe hätten wir nicht genug von diesen Flugblättern gehabt! Jeder griff danach, es war wirklich irre!
In Einzelgesprächen mit den Bürgern erfuhren wir von dem einen oder anderen Legastheniker unter den Erwachsenen, und alle sagten, wie sehr sie sich früher gefreut hätten, wenn ihnen mal jemand so unter die Arme gegriffen hätte, wie wir das jetzt für die Legastheniker erreichen wollten.
Im Nu hatten wir sechshundert Unterschriften für unser Anliegen zusammen. Sechshundert! Jetzt mussten die Abgeordneten im Landtag den Vorschlag diskutieren, ob man von Kindern, deren erklärter Feind der Buchstabe war, in Prüfungen nicht auch Tonaufzeichnungen akzeptieren konnte! Das war ja nun wirklich keine Idee, die man so einfach vom Tisch wischen konnte. Auch nicht die Profis im Bildungssektor.
Ich hatte mir im Zuge meiner Bemühungen natürlich auch mal genauer angeguckt, was für Regelungen es schon gab, aber ich sag Ihnen ganz ehrlich: dieser Paragraph 35 a, und von wegen jedes Kind, das Scheiße
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