Dann fressen sie die Raben
durchgeht.
Mam fängt an zu lachen und Pa fällt ein.
»Dann hol dir schnell etwas aus der Cafeteria«, sagt Pa. »Bevor wir dich hier neben deine Mutter legen müssen.« Er nimmt einen Zehner aus seiner Hosentasche und reicht ihn mir. Sein Ärger scheint wieder verraucht zu sein. »Und wenn du wieder da bist, erzählst du uns, wo du heute den ganzen Tag warst.«
»In Ordnung, ich beeil mich.« Ich nehme sein Geld, weil ich keins dabeihabe. »Und ihr«, versuche ich einen Witz, »müsst mir versprechen, nicht zu streiten, während ich weg bin, ja?«
»Das schaffen wir.«
Als ich das Zimmer verlasse und auf den Gang trete, sehe ich zu meiner Überraschung Gretchen, die mit Dennis’ Vater redet. Gehört Gretchen jetzt zum inneren Kreis oder nicht? Aber dann denke ich an die Pizzerien ihres Vaters, und wenn ich sehe, wie sie voller Mitgefühl den Arm von Dennis’ Vater tätschelt, während der sich lautstark darüber aufregt, dass Dennis sein Zimmer teilen muss, obwohl er doch bereit ist, für ein Einzelzimmer zu bezahlen, dann habe ich keine Zweifel mehr.
Sie alle stecken mit drin.
Nur mein Hauptverdächtiger Oliver nicht – der hat sich als Einziger tatsächlich sozial engagiert und wurde auf das Niederträchtigste ausgenutzt.
Ich muss an die Galafotos denken, wie hübsch sie alle auf dem Gruppenfoto aussehen und womit sie ihr Geld verdienen. Und wenn ich mich an den wohltätigen Scheck von Dennis’ Vater erinnere, könnte ich kotzen. Alle haben nur gelogen und betrogen. Jeder hat mir etwas anderes vorgespielt.
In diesem Moment schiebt Jay ein Bett um die Ecke, Samira geht nebenher, spricht mit dem Patienten und hält dabei seine Hand. Als sie näher kommen, erkenne ich Amari, der überall bandagiert zu sein scheint. Samira nickt mir freundlich zu und begleitet Amari in das Zimmer, in dem auch Dennis zu liegen scheint.
Ich setze mich ganz automatisch wieder in Bewegung und frage mich, ob ich das gerade wirklich gesehen habe. Woher kennt Samira den Knecht von Dennis? Denn dass sie ihn kennt, ist sonnenklar, das ist mehr gewesen als nur Solidarität unter Schwarzen. Wie sie seine Hand gehalten hat, das war geradezu intim.
Und wenn Amari der Freund von Samira ist, dann würde es natürlich Sinn ergeben, dass Dennis und Amari ausgerechnet hier im Krankenhaus gelandet sind. Meine Gedanken fangen an, sich zu überschlagen, und dann fällt mir ein, wo ich einen Fehler gemacht habe, und plötzlich fügen sich viele der winzigen Splitterteile zu einem Ganzen.
Ich fahre mit dem Lift nach unten, aber es ist schon nach acht Uhr, die Cafeteria hat längst zu und ich kann mir nur noch am Kiosk ein paar Schokoriegel kaufen. Trotz allem bin ich hungrig, reiße das Papier ab und verschlinge ein Snickers in drei Bissen, dann schiebe ich noch Twix nach und fahre wieder nach oben, und während all der Zeit arbeitet es in mir. Samira war im Zimmer, als Lina gesagt hat, Schenk wäre hier. Ich bin irrtümlich davon ausgegangen, dass sie einen Mann meinte, eben Alex.
John hat vor seinem Verschwinden gesagt, dass Amaris Schwester einen legalen Job in einem Krankenhaus hätte, den ihr Dennis besorgt hat. Was, wenn es sich bei dieser Schwester um Samira handeln sollte?
Dann würde sie in Dennis’ Schuld stehen.
Und noch etwas fällt mir ein: die Kette mit den gelben Perlen. Die tragen sowohl Samira als auch Amari um den Hals.
Mir wird kalt, als mir das Schlimmste klar wird. Samira hat all die Möglichkeiten gehabt, die ich Oliver angedichtet habe: Sie hätte dafür sorgen können, dass Lina ins Koma fällt und nie mehr aufwacht. Und wenn Amari ihr Bruder ist, dann hätte sie auch allen Grund gehabt, Lina zu fürchten oder zu hassen. Aber wenn er nicht ihr Bruder, Mann, Verlobter oder Verwandter ist, sondern einfach nur ein Patient, um den sie sich gut kümmern wollte, dann wären das alles nur meine Hirngespinste. Sie hätte mir doch damals an Linas Bett nicht ihre Kette gezeigt, wenn sie in der Sache mit drinhängt? Sie kam mir so besorgt vor und freundlich. Aber dann denke ich daran, wie kalt sie Linas Augen geschlossen hat, wie sie das Zimmer frei geräumt haben wollte, kaum, dass Lina gestorben war. Nicht zu vergessen ihren Streit mit Oliver.
Auf jeden Fall muss ich mit ihr reden, muss sofort wissen, ob sie mit drinhängt oder ob man ihr trauen kann.
Ich renne durch den Flur zurück, passiere Gretchen und Dennis’ Vater, die da immer noch stehen, reiße die Tür zu Amaris Zimmer auf, aber da ist sie nicht mehr.
Vor
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