Dann fressen sie die Raben
Gesicht ab. »Vertraust du mir?«
»Warum fragst du das?«
»Weil ich gespürt habe, wie du mich vorhin angesehen hast.«
»Aber ich vertraue dir«, beteure ich und das tue ich wirklich, obwohl ich unwillkürlich daran denken muss, wie er Alex gerade ins Gesicht geschlagen hat. Wie weit würde er in seiner Wut und seinem Schmerz gehen?
Alex sieht von John zu mir. »Wenn du ihm vertraust, wie ist er dann an Linas Handy gekommen?«, fragt er mich.
»Deine Lügen ziehen bei mir nicht mehr.«
Alex steht auf und stürzt sich auf John, der völlig steif dasteht und mich fassungslos anschaut. Ehe John reagieren kann, greift er in seine Hosentasche und zieht dann ein rosa Klapphandy heraus. Ich erkenne es sofort. Es ist Linas Mobiltelefon. Das, was ich überall gesucht habe.
Mir verschlägt es die Sprache. Was wird hier gespielt? Wo kommt das jetzt her? Sind denn hier alle nur Lügner und Schauspieler, sogar John?
»John, bitte, erklär’s mir!«
John greift nach dem Handy, steckt es wieder ein und geht unvermittelt zur Tür. »Ich muss hier raus«, sagt er. »Ihr Europäer habt zugelassen, dass euer Kopf euer Herz erstickt.« Er verlässt die Wohnung so schnell, dass er schon draußen ist, bevor ich wirklich kapiere, was hier gerade passiert.
Ich renne ihm hinterher. »John«, brülle ich ins Treppenhaus, »was soll denn das? Bitte – wir müssen zusammen zur Polizei!«
»Da wäre er schön blöd!«, murmelt Alex.
Ich wirbele herum, möchte ihm gern sein spöttisches Grinsen vom Gesicht wischen, möchte wissen, wo eigentlich der echte Alex ist, der mit den Gefühlen, der doch irgendwo tief in seinem Bauch wissen muss, wie furchtbar das ist, was er da getan hat. Und dann beschleicht mich der entsetzliche Gedanke, dass es diesen Alex vielleicht gar nicht gibt.
XII
Und als die Wahrheit von uns zu ihnen kam, sagten sie: »Das ist offensichtlich Zauberei.«
((10:76))
Er stürmt die Treppen runter, weiß nicht wohin, nur weg von denen. Er hasst sich selbst für seine Gefühle, denn das alles ist wider die Natur. Es ist doch unmöglich, dass eine Gazelle einem Löwen das Herz brechen kann.
Er wünschte, er hätte sich besser unter Kontrolle. Er hätte ihr sagen müssen, dass das, was sie für eine Wasserstelle hält, nur ein vergifteter Tümpel ist. Aber das soll jetzt ihre Sache allein sein. Wie kann ein lächerliches Handy ihr Herz dermaßen täuschen. Wenn sie nach allem, was passiert ist, nicht weiß, ob er die Wahrheit sagt oder nicht, dann ist sie es nicht wert.
Er ist fertig mit ihr und dieser elenden kleinen Schabe. Und es freut ihn fast, dass sie so nie erfahren wird, dass die Schabe die Wahrheit gesagt hat. Jedenfalls, was den letzten Abend von Lina angeht, denn die Schabe, Dennis und Amari waren tatsächlich in der Pizzeria. Er hat die drei voller Rachedurst belauert und nur auf eine Gelegenheit gewartet, es ihnen heimzuzahlen, auch wenn er Kimoni versprochen hatte, sich nie wieder in Rache zu verlieren.
Er muss sich zusammennehmen, so wie er rennt und sich zwischen den Passanten durchschiebt, fällt er auf. Die Leute starren ihn an, als wäre er ein Dieb auf der Flucht, fast wünscht er sich, dass sich jemand an seine Verfolgung machen würde, nur um ihm dann zu entwischen. Aber dann zwingt er sich doch, ruhiger zu werden, mehr aus Gewohnheit, denn warum sollte er überhaupt noch hierbleiben wollen, in diesem widerwärtigen Land voll kaltherziger blinder Gazellen?
Um seine Seele von diesen sinnlosen Gedanken abzulenken, sagt er Gedichte auf, die er in der deutschen Schule bei den Missionaren gelernt hat. Gedichte von Zauberworten und Waldesruhen und von merkwürdigen Birnen, mächtigen Raben und eisigen Reitern. Darin war er immer schon gut, viel besser als Kimoni, der sich nichts merken konnte und der es gerade so geschafft hat, Englisch zu lernen. Ein flüchtiges Lächeln zwingt sich in Johns Gesicht, wenn er daran denkt, wie glücklich sie waren, als sie es über Italien endlich bis hierher geschafft hatten, voll irrsinniger Träume. Kimoni hatte die Idee, Pilot zu werden, wollte gerne wieder eine Uniform tragen, trotz des Horrors, den sie als Kinder bei den Rebellen erlebt hatten, trotz der Narben. Manchmal waren sie raus zum Flughafen gefahren und hatten den Jumbos beim Starten und Landen zugesehen. »Schau, genau so einen werde ich mal fliegen.« Kimonis Augen hatten geleuchtet wie Blinkfeuer.
Ich habe so vieles ertragen, überlegt John, aber ohne einen Menschen, den man liebt, ist nichts
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