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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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Haare kleben am Schädel und von seiner Nase ziehen sich tiefe Falten zu seinem Mund herab.
    Als er mich entdeckt, steht er auf, verlässt Linas Zimmer und kommt zu mir. Er würde mich niemals umarmen, er ist nicht der herzliche Typ. Er reicht mir nur die Hand.
    Obwohl er wirklich traurig wirkt, muss ich jetzt endlich von ihm wissen, was zur Hölle hier in seinem Krankenhaus mit meiner Schwester passiert ist. Seit drei Tagen versuche ich, ihn zur Rede zu stellen, aber kaum habe ich ihn gefunden, piept sein blöder Alarm, oder er muss angeblich ganz dringend irgendwohin, die Welt retten. Ich stehe auf der Liste seiner Prioritäten ganz unten, denn ich bin ja gesund und weder illegal noch obdachlos. Mittlerweile kann ich ganz gut verstehen, warum Alex mit seinem Vater ein Problem hat. Aber jetzt entkommt er mir nicht mehr.
    »Ruby, es ist mir völlig schleierhaft, wie das geschehen konnte«, antwortet er müde auf meine wütende Frage. »Es ging Lina gut. Sie hatte keine Verletzungen oder innere Blutungen, wie das manchmal nach Tablettenmissbrauch der Fall ist. Ich verstehe es einfach nicht. Als Alex sie gefunden hat, war sie schon bewusstlos. Wenn nur jemand bei ihr gewesen wäre, als es passiert ist, dann könnten wir viel besser nachvollziehen, was geschehen ist.«
    Alex hat sie also gefunden? Warum hat Mam dann gesagt, es war Oliver. Oder hat Oliver nur ihr gegenüber behauptet, er wäre es gewesen, um zu vertuschen, dass er sich nicht gut genug um Lina gekümmert hat?
    Mams neuer Mann, unser Stiefvater, sieht mich wartend an, aber was will er von mir? Dass ich ihn von jeder Schuld freispreche? Den Gefallen tue ich ihm nicht.
    »Es fällt mir schwer, das zu sagen«, fährt er salbungsvoll fort, »aber manchmal sind uns Ärzten Grenzen gesetzt, die man so einfach nicht akzeptieren kann.« Sein Pieper schrillt, er nimmt ihn hoch, schaut darauf und stellt ihn seufzend ab. Alles klar, das war’s mit unserem Gespräch. »Weißt du, Ruby, ich mochte Lina immer sehr. Sie war so ein warmherziger Mensch. Entschuldige, ich muss los, geh doch rein und sprich mit ihr.«
    Er stürmt davon.
    Lina war warmherzig? Er mochte sie? Die Wut, die sich das ganze Gespräch über aufgebaut hat, kocht in mir hoch. Hat er sie etwa aufgegeben? Obwohl dieser Spezialist doch gestern das Gegenteil gesagt hat?
    Ich ziehe mir die Schuhüberzieher und den grünen Kittel an, setze mich neben meine Schwester auf einen altmodischen Besucherstuhl und nehme ihre Hand. Ihr Anblick ist nicht mehr so verstörend wie an dem Tag, als sie von Schenk geredet hat. Ihre Lippen sind verheilt. Sie ist sehr blass, ja, und ihre Augenlider schimmern wie blaugrau eingefärbte Regenbogen, aber sie wirkt entspannt, so, als würde sie wirklich nur schlafen und dabei gesund werden. Ich erzähle ihr von meinem Tag in ihrer Schule, frage sie nach Gretchen und Dennis und sage ihr immer wieder, dass sie bald zurückkommen muss, dass wir sie brauchen. Aber es passiert rein gar nichts, die Maschinen piepsen in meinen Ohren unglaublich laut und Lina liegt trotzdem einfach nur da. Irgendwann höre ich auf zu sprechen und merke, dass diese Geräusche auch etwas Einschläferndes haben. Ich lege meinen Kopf neben ihre Hand und schließe nur mal ganz kurz meine Augen.
    »Hilf uns!« Mit einem Ruck komme ich wieder zu mir, schrecke hoch, da fällt Linas Zimmertür ins Schloss. Ein kleiner Luftzug geht durch den Raum und es riecht nicht mehr so antiseptisch, sondern irgendwie anders, nach Gewürzen. Ich springe auf und renne zur Tür. »Hilf uns«, hat eine Stimme gerade zu mir gesagt, da bin ich ganz sicher. Aber ich sehe niemanden. Nichts.
    Also muss ich doch geträumt haben, auch wenn ich mich nicht daran erinnere. So geht es mir oft, wenn ich nachmittags einschlafe. Danach bin ich wie gelähmt und komme gar nicht mehr zu mir. Ich reibe meine Augen und strecke mich.
    In diesem Moment bewegen sich Linas Finger über die Bettdecke. Mein Herz schlägt schneller. Sie wacht auf, ganz klar, sie wacht auf! Das war kein Traum! Es war Lina, die mit mir gesprochen hat!
    Ich klingele nach der Schwester, sie muss sich das anschauen, Oliver rufen.
    In wenigen Sekunden ist Samira im Zimmer, die große schlanke Schwester, die ich am ersten Tag schon gesehen habe. Sie wirkt so gelassen, als könnte sie aus dem Stegreif die Wundversorgung einer Erdbebenkatastrophe übernehmen, ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen. Unzählige geflochtene Zöpfe, an deren Enden Perlen befestigt sind, klappern

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