Dann fressen sie die Raben
auf dem Linoleum einen Höllenlärm, obwohl ich Sneakers mit Gummisohlen trage.
Ich gehe zurück zum letzten Treppenabsatz, beuge mich übers Geländer und sehe gerade noch, wie sich eine dunkle Gestalt hastig zurückzieht.
»Hallo?«, rufe ich. Als niemand antwortet, zucke ich die Schultern und gehe weiter. Schließlich ist das hier ein öffentliches Treppenhaus. Ich bin gerade beim nächsten Absatz, als unter mir plötzlich ein Schrei ertönt, laut und gellend. Und er stoppt so abrupt, wie er angefangen hat, als hätte jemand den Schrei erstickt. Oder als ob sonst etwas Schreckliches passiert sei.
Ich renne die Treppen nach unten, um nachzuschauen, ob ich helfen kann, Absatz um Absatz, aber da ist niemand. Ich glaube fast schon, dass ich Halluzinationen habe, als ich eine Tür leise ins Schloss fallen höre. Also doch! Ich renne dem Geräusch nach, passiere das Erdgeschoss und lande am untersten Absatz der Treppe im Keller. Vor mir ist eine schwere Eisentür. Ich öffne sie und schaue in einen unerwartet dunklen Gang, in dem ich gerade noch erkennen kann, wie eine Gestalt schnell davonhumpelt. War das der Typ, der so geschrien hat? Vielleicht ist er ein paar Stufen hinuntergefallen und hat sich das Bein angeschlagen? Jedenfalls scheint er meine Hilfe nicht zu brauchen.
Während ich warte, bis sich mein Atem beruhigt hat, starre ich diesen Gang entlang und kann nicht fassen, dass er unter einem Krankenhaus verläuft. Hier sieht es aus wie in einem schlechten Remake von Dr. Frankenstein. Der Gang ist nur unzureichend beleuchtet, wohl um von dem hässlichen Gewirr von Kabeln und Rohren an der Decke abzulenken. Es riecht unangenehm stark nach Desinfektionsmitteln und Schweißfüßen und es ist überraschend warm.
Unwillkürlich muss ich wieder an das »Hilf uns« aus meinem Traum denken und an den bösen Schenk. Ich greife in die Tasche und raschele mit dem Schokopapier. Nichts wie weg hier, hoch zu den alten, aber doch hellen und sauberen Räumen. Ich haste los und erst nach zwei Stockwerken fällt mir auf, dass ich ganz schön neben der Spur bin.
Als ich bei Lina ankomme, habe ich mich wieder beruhigt. Durch die Glastür sehe ich Oliver bei Alex und Lina stehen. Oliver unterhält sich mit Alex. Nein, das ist keine Unterhaltung. Oliver steht vor seinem Sohn und sieht so aus, als wollte er ihn gleich schlagen. Aber noch mehr Angst macht mir der Fluch, der seinen wütenden Vater einfach nur mit zusammengepressten Lippen anstarrt und dabei spöttisch seine Augenbrauen hochzieht.
Ich zögere einen Moment, dann denke ich, dass es nicht gut für Lina ist, wenn sich Leute neben ihrem Bett streiten.
Ich klopfe an die Scheibe, mit dem Ergebnis, dass sich beide ruckartig zu mir umdrehen. Oliver versucht, mich anzulächeln, was ihm aber kläglich misslingt. Alex hingegen grinst mich gelassen an und zuckt mit den Schultern, als wollte er mir sagen: Väter! Schau ihn dir an, Ruby. Ist er nicht unglaublich bescheuert?
Oliver kommt aus dem Zimmer und ganz offensichtlich will er auch, dass Alex gehen soll. Widerstrebend folgt er seinem Vater.
»Was ist denn los?«, frage ich.
»Nichts«, antworten beide gleichzeitig.
»Okay. Ist was mit Lina?«
»Es geht ihr gut.«
Als Oliver meinen skeptischen Blick sieht, fühlt er sich dann doch bemüßigt hinzuzufügen, wie großartig es sei, dass Lina körperlich so gesund sei, weil so die Wahrscheinlichkeit einer komplikationsauslösenden Infektion stark verringert werden würde.
Komplikationsauslösend. Das Wort bleibt wie ein Damoklesschwert in der Luft hängen, sperrig, monströs. Ich schaue zu meiner Schwester und versuche, meinen Blick auf ihr Gesicht zu fokussieren ohne die Schläuche und Geräte, aber es ist nicht möglich. Eine Gänsehaut läuft über meinen Rücken. Komplikationsauslösend. »Und durch welche Komplikation wurde dieses Koma ausgelöst?«
Oliver zuckt mit den Schultern und hebt beschwörend seine Hände. »Wie ich vorhin schon sagte. Wir sind eben doch keine Götter. Wir haben nicht auf alles Einfluss. Aber es fällt schwer, das zu akzeptieren.«
Ich verkneife mir einen Kommentar, die beiden gehen mir auf die Nerven. Deshalb greife ich mir die Desinfektionskleidung und gehe zu Lina hinein. An ihrem Bett greife ich nach ihrer Hand. Sie ist trotz des kalten Zimmers erstaunlich warm. Ich wollte sie eigentlich streicheln, aber dann wird meine Kehle eng und ich packe fest zu. Umklammere sie so wie damals, als sie ins Eis eingebrochen war, so, als ob ich sie
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