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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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leise, wenn sie ihren Kopf bewegt. Ich erkläre, was ich gesehen habe. Samira schaut zu Linas Fingern, die immer noch über die Decke wandern, und wieder aufmerksam zu den Geräten, dann zurück zu Lina, schließlich schüttelt sie sehr heftig den Kopf.
    »Diese Zuckungen haben leider nichts zu bedeuten«, sagt sie und legt mir tröstend die Hand auf die Schulter. »Trotzdem werde ich Dr. Brandt davon berichten, in Ordnung?« Sie überprüft alle Schläuche und Infusionen, dabei fällt eine Silberkette aus ihrem Kittel, an der drei seltsame gelbe Perlen baumeln. Sie schiebt die Kette unter den Kittel zurück, nickt mir zu und verlässt das Zimmer. Ohne sie erscheint es mir hier drin plötzlich unerträglich.
    Am liebsten würde ich hinter ihr herrennen und mich an sie klammern.
    Hilf uns!
    Mein Traum fällt mir wieder ein. Gerade jetzt habe ich das Gefühl, dass eher ich diejenige bin, die Hilfe braucht. Ich überlege, ob ich mir einen Kaffee holen soll, um dieses wattige Gefühl abzuschütteln und wenigstens einen Moment dem schrecklichen Piepsen der Geräte zu entkommen, da winkt mir Alex durch die Glasscheibe zu. Fast freue ich mich, meinen Stiefbruder zu sehen, doch dann fällt mir wieder ein, was Dennis gesagt hat. Darüber muss ich dringend mit Alex reden. Allerdings nicht, bevor ich mir einen Kaffee geholt habe.
    »Kannst du für einen Moment bei ihr bleiben?«, bitte ich ihn. »Ich will nur kurz in die Cafeteria.«
    Er lächelt mich an. »Kein Problem. Du kannst auch nach Hause gehen. Es soll sowieso immer nur einer bei ihr sein, hat mein Vater gesagt.«
    Ich überlege einen Moment. Wie fange ich das jetzt bloß an? »Als du sie gefunden hast, du weißt schon, an dem Tag, als sie ins Koma gefallen ist, hat sie da noch etwas gesagt?«, frage ich vorsichtig.
    Alex presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.
    »Warum hast du mir nicht erzählt, dass du sie gefunden hast?«
    »Ist das denn wichtig?«
    »Ja, alles ist wichtig.« Ich hole tief Luft. »Magst du Lina eigentlich?«
    »Sie war ganz okay.«
    Unfassbar! Wir stehen neben ihrem Bett, sie atmet noch und er sagt, sie war okay. Mir schießen Tränen in die Augen und ich weiß nicht, ob vor Wut oder vor Angst, dass sie vielleicht nie mehr aufwacht.
    Er räuspert sich. »Ich finde, wir sollten nicht über sie reden, während sie so hilflos daliegt.«
    Was für ein Heuchler! Er ist es doch, der hier von ihr in der Vergangenheit spricht! Wenn er sie immer so mies behandelt hat und sie tatsächlich in ihn verliebt war …
    Ich stürme kommentarlos an ihm vorbei, denn wenn ich ihn jetzt weiter zur Rede stelle, breche ich vermutlich in Tränen aus.
    Erst nachdem ich zwei Becher schwarzen Kaffee mit viel Zucker aus dem Automaten in der Cafeteria im Erdgeschoss heruntergestürzt habe, beruhige ich mich ein bisschen. Ich kaufe mir noch ein Twix, dann mache ich mich auf den Rückweg. Lina soll nicht lange allein mit dem Fluch bleiben, das kann nur schlecht für ihren Zustand sein.
    Ich entscheide mich, die Treppe zu nehmen, obwohl Lina im obersten, dem fünften Stockwerk, untergebracht ist, aber das kommt mir gerade recht. Ich habe das Gefühl, ich muss all meiner Wut und meiner Angst etwas Luft machen, und sei es nur, indem ich die Treppe hinaufstürme.
    Das Treppenhaus ist noch schäbiger als alles andere in diesem Krankenhaus. Das einzig Bunte sind die knallroten Feuermelder und Feuerlöscher, die auf jedem Stockwerk neben den Zugangstüren an die grauen, früher mal weißen Wände montiert sind.
    Während ich auf dem Weg nach oben mein Twix verschlinge, zerbreche ich mir den Kopf über Alex und Lina. Alex hat schon einmal jemanden verloren, seine Mutter. Vielleicht verhält er sich deswegen so unsensibel? Immerhin rechne ich ihm hoch an, dass er nicht plötzlich so tut, als ob er und Lina Busenfreunde gewesen wären. Aber wieso soll sich Lina dann in ihn verknallt haben?
    Obwohl, wispert eine Stimme in mir, passt nicht genau das? Lina sucht sich doch immer Typen aus, die unerreichbar sind. Denn alle anderen liegen ihr sowieso zu Füßen und sind sterbenslangweilig für sie.
    Ich stopfe das letzte Stück meines Schokoriegels in den Mund, zerknülle das Papier und schaue mich in dem menschenleeren Treppenhaus nach einem Mülleimer um. Aus den Augenwinkeln erkenne ich eine Bewegung, unwillkürlich drehe ich mich in die Richtung, nichts. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass da gerade jemand war. Aber warum habe ich keine Schritte gehört? Meine eigenen machen

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