Dann gute Nacht Marie
liebevoll und
sorgfältig bearbeiteten Existenz zu trennen. Langsam fühlte sie, dass sie durch ihre Nachlasszensur und nicht durch Lutz Maibach ihre Vergangenheit und damit ihr ganzes Dasein wieder zu schätzen begonnen hatte. UNTERSTREICHEN.
Sie hatte in den vergangenen Wochen mehr als in den Jahren zuvor unternommen, einige neue Leute kennengelernt, ihre Umgebung verschönert und sogar einen Schritt auf die Eltern zu getan. Ihr Kleiderschrank enthielt eine Fülle neuer Klamotten, die schließlich auch getragen werden wollten. Nun gut, die Schuhe würden nicht lange halten … egal. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie wieder ein Buch gelesen und sogar eine Reise geplant. Darauf konnte man doch durchaus aufbauen! Ganz abgesehen davon, dass es geradezu sträflich gewesen wäre, das so sorgfältig entrümpelte Leben jetzt nicht auch noch ein bisschen weiterzuführen. Sämtliche Computerfestplatten waren aufgeräumt, die Bürounterlagen sortiert und beschriftet, alte Kleidungsstücke entsorgt.
Ganz unbemerkt war ihr Plan A gegenstandslos geworden: Marie wollte sich nicht umbringen. Jedenfalls nicht mehr. Und die Tatsache, dass Lutz offensichtlich kein Interesse an ihr als Frau, sondern nur als Krimiautorin gehabt hatte und es auch nach ihren wiederholten Bemühungen nicht für nötig befand, sich zu melden, änderte daran nichts. Kein Selbstmord. Kein Lebensende. Keine Hinterlassenschaften. SPEICHERN.
Endlich begann Marie wieder bewusst, so etwas wie Lebensmut und -freude zu verspüren. Unbewusst hatte sie das wohl bereits in den letzten Wochen getan. Doch überlagert von dem festen Plan, ihren Tod und damit auch ihr Leben zu einer spektakulären Inszenierung zu
machen, hatte sie die Signale, die sich im Laufe der Zeit in ihrem Inneren gebildet hatten, nicht wahrgenommen.
Sie wollte leben. Ein gutes Gefühl, fand Marie und zerknüllte ihre sorgsam abgearbeitete Liste zu einem festen Papierball, den sie vom Sofa aus zielsicher in den Papierkorb warf. Treffer! Tor! SPEICHERN.
Mit der Gewissheit, ihren gesamten Jahresurlaub hinter sich, aber dafür ein komplett neues Leben vor sich zu haben, öffnete Marie eine Flasche Wein und genoss ihre Wiedergeburt vor dem TV-Sonntagskrimi, von dem sie allerdings kaum etwas mitbekam. Wozu auch? Sie musste ja keine Stoffsammlung für nicht existierende Kriminalromane mehr betreiben. Welch eine Erleichterung, fand Marie und ging nach der - für sie leider gänzlich unverständlichen - Lösung des Falls sofort ins Bett. COMPUTER AUS.
20
DOKUMENT20. Ihren letzten Urlaubstag begann Marie in dem vollen Bewusstsein, dass er gleichzeitig der erste Tag ihres neu gewonnenen Lebens war. Grund genug, diese letzten und ersten vierundzwanzig Stunden gut zu nutzen und in vollen Zügen zu genießen. Was das in die Tat umgesetzt bedeutete, hätte sie noch vor wenigen Tagen ganz anders beurteilt als heute. Wie nutzte man vierundzwanzig frei zur Verfügung stehende Stunden sinnvoll? Einen Krimi erfinden? Einen Kleiderschrank ausmisten? Ein Badezimmer entrümpeln? Nichts davon stand heute auf der Tagesordnung. Und das mit Recht, fand Marie. SPEICHERN.
Als erste Konsequenz ihres neuen, bewusst empfundenen Lebensgefühls drehte sie sich nach dem ersten Erwachen erst noch einmal um und schlummerte genüsslich ein bisschen weiter. Welch ein Gefühl, nicht recherchieren und zensieren zu müssen! Stattdessen konnte sie jetzt wieder guten Gewissens Pläne schmieden. Vor ihr lag schließlich eine Zukunft, an die sie schon nicht mehr geglaubt hatte, mit der man jedoch viel anfangen konnte. Im wahrsten Sinn des Wortes. So einiges würde sich ändern müssen, wollte sie die vergangenen Wochen gewinnbringend für sich nutzen. Auf jeden Fall wieder mehr Kontakt zu ihren Eltern, zu Alma und vielleicht auch Elmar, nahm Marie sich vor. Im Büro weniger Kompromisse
- mit Schmidt war ein Anfang gemacht, das musste doch auch bei Renate funktionieren. Überhaupt wollte sie sich öfter wehren und statt zu kuschen lieber ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen. Ob Friseur- oder Cafébesuch, Auszeiten, kleine Freuden - so schwer war das in den letzten Tagen nun auch wieder nicht gewesen.
Nach diesen erholsamen zusätzlichen Luxusminuten unter der kuschelig warmen Decke hielt es Marie jedoch nicht mehr lange im Bett. Zu groß war ihre Euphorie nach der Deprimiertheit der letzten Tage.
»Kasimir, du musst dir kein neues Frauchen suchen!«, rief sie laut in Richtung Wohnzimmer und sprang erstaunlich
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