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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Becker
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vom Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer, dazu Post-it-Blöcke in verschiedenen Farben und Größen, diverse Textmarker und ihr Adressbuch. Mit Hilfe dieser kunterbunten Schreibwaren-Ausstattung begann sie, ihre letzten Lebensmonate interessanter und abwechslungsreicher zu gestalten. Aus ihrem Adressbuch suchte sie sich die dort verzeichneten Geburtstage heraus, die sie schon seit einiger Zeit nicht mehr für einen Besuch oder zumindest einen Anruf bei dem jeweiligen Gefeierten zum Anlass genommen hatte. Sie trug sämtliche Daten in den Kalenderteil des Timers ein, als hätte sie noch immer regen Kontakt zu ihrem ehemals deutlich größeren Bekanntenkreis.
Um die Sache eindrucksvoller zu gestalten, schrieb sie zu einigen Namen kreative Geschenkideen dazu. Sollten sich die Betroffenen doch selbst eine Erklärung dafür suchen, dass sie die hier verzeichnete verheißungsvolle Gabe nie erhalten hatten. Das Ganze rundete Marie in der Weise ab, dass sie die einzelnen Eintragungen mit unterschiedlichen Stiften machte, so als wären sie an ganz verschiedenen Tagen getätigt worden.
    Danach trug sie an einigen Stellen erfundene Arzttermine ein, die sicher niemand im Nachhinein überprüfen würde. Natürlich erdachte sie hierfür keine Mediziner, die auf ein unangenehmes oder gar unappetitliches Leiden schließen lassen würden. Das Übliche. Frauenarzt - Vorsorge. Hausarzt - Impfung (das konnte man in entsprechenden Abständen praktischerweise gleich drei Mal verzeichnen). Zahnarzt - Routineuntersuchung. SPEICHERN.
    Nachdem die Standards der Allerweltstermine erledigt waren, ging Marie nach der Pflicht zur Kür über. Mit Geburtstagen und Arztbesuchen konnte man schließlich niemanden wirklich beeindrucken. Sie vermerkte diverse erfundene Treffen, mit diesem oder jenem Bekannten. Danach erdachte sie ein paar (nicht zu viele, um nicht unrealistisch zu wirken) Verabredungen mit so interessant klingenden Männernamen wie »Giovanni« (Italiener waren immer gut), »Frédéric« (Akzente beeindruckten sowieso) oder »Paul« (den Namen mochte sie schon immer). SPEICHERN.
    Nun musste sie nur noch einige beruflich bemerkenswerte Highlights setzen, und der Terminkalender war so gut wie fertig. Auch das fiel ihr nicht schwer, schließlich wusste sie genau, was sie sich in den letzten Jahren arbeitstechnisch
erträumt hatte. Zunächst notierte sie im Februar die Teilnahme an einem dreitägigen Seminar zum Thema »Knowledge-Based Robotics« und wenn schon englisch, dann in Oxford. UNTERSTREICHEN. Der Ort wurde mit Textmarker unterlegt, um ja nicht übersehen zu werden. Im März folgte gleich noch ein Symposium über »Kryptografische Verfahren«, Weiterbildung war schließlich das A und O in der Computerbranche. Im Mai hatte Marie auf einer Tagung in Zürich zum Thema »Objekt-orientierte Programmierung« einen Vortrag gehalten, und im August war da noch ein Seminar in Hamburg über »Organic Computing«. Dass die verschiedenen Themen nichts miteinander zu tun hatten und nur aufgrund ihrer wohlklingenden Titel ausgewählt worden waren, würde von ihren fachfremden Hinterbliebenen keiner bemerken. Und dass sie niemandem davon erzählt hatte, war nur ein weiterer Beweis für ihre grenzenlose Bescheidenheit. UNTERSTREICHEN.
    Der nun schon ziemlich gut mit Terminen bestückte Kalender wurde zur Abrundung des Gesamteindrucks noch mit ein paar unterschiedlichen Klebezetteln versehen, die kleinere Notizen zu notwendigen Besorgungen und Erledigungen enthielten. Ein paar Telefonnummern entnahm Marie ihrem Adressbuch und schrieb sie auf weitere Einmerker, die sie dazwischenheftete. Den Adressenteil des Timers füllte sie mit den Anschriften ihres Bekanntenkreises, obwohl sie bei den meisten nicht wissen konnte, ob sich deren Daten vielleicht inzwischen geändert hatten. Aus ihrem Portemonnaie nahm sie ein paar irgendwo eingesteckte Visitenkarten und Informationszettel, die sie ihrem eindrucksvollen Werk als Letztes hinzufügte. SPEICHERN.

    Als sie nun das fertige Ergebnis ihres mehrstündigen Schaffensprozesses vor sich sah, war sie wieder einmal stolz auf ihre Arbeit. Wer diesen Terminkalender in die Hände bekam, musste den Eindruck haben, Marie habe in ihren letzten Lebensmonaten abwechslungsreich und erfüllt gelebt. Wie das mit ihrem offensichtlich selbstbestimmten Lebensende zusammenpassen sollte, darüber dachte sie in dem Moment vorsichtshalber nicht nach. WEITER.
    Um nicht unnötig etwas von ihrer knapp bemessenen Zeit zu verlieren,

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