0854 - Jäger der verlorenen Seelen
Mary Sinclair konzentrierte sich auf den Ausdruck in den Gesichtern, und sie empfand ihn als sehr traurig. Die Geister sahen aus, als würden sie unter einer schrecklichen Last oder einem furchtbaren Fluch leiden, der sie selbst in ihrer feinstofflichen Gestalt nicht losließ.
Sie standen da, strahlten eine für Mary nicht erklärbare Kälte ab und schauten nur.
Nein, das war kein Schauen. Dieser Ausdruck in den Augen glich eher einem gequälten Starren, als wollten sie zugleich bei Mary um Hilfe bitten.
Wie lange die Frau dort gestanden hatte, wußte sie selbst nicht. Sie war beinahe zu einer Statue geworden. Zumindest mußte sie wegen des ausgestreckten Arms auf andere Kunden so wirken, denn die Hand schwebte wie eine Klaue über den Joghurtbechern.
Die Zeit gab es für Mary Sinclair nicht mehr. Sekunden oder Minuten was war das schon? Für sie wurde jeder Moment zu einer Ewigkeit, und sie kam sich vor wie eine Gefangene in einem anderen Reich. Es mochte an der Kälte liegen, die nicht allein vom Kühlregal ausströmte, sondern von den beiden Geistern abgegeben wurde.
Sie drehten ab.
Urplötzlich waren sie herumgeschwenkt, und dies war alles passiert, ohne das Mary einen Laut gehört hatte. Sie blieben zusammen, eben Bruder und Schwester, und sie huschten tiefer in den großen Ladenraum hinein, und zwar dorthin, wo sich die breite Tür zum Lager befand, eingerahmt von großen Paletten, auf denen sich zahlreiche Dosen mit Fertiggerichten stapelten.
Mary schaute ihnen noch nach, und sie bemerkte dabei, wie sich ihre Umrisse immer mehr verflüchtigten, als wären sie von der normalen Luft aufgesaugt worden. Nahe der Lagertür waren sie überhaupt nicht mehr zu sehen. Sie ließen als Gruß nicht mal ein Zittern zurück.
»He, Mary, träumst du?«
Eine Frau hatte sie angesprochen, und Mary zuckte zusammen. Sie drehte den Kopf. Das lachende Gesicht einer Bridge-Freundin schaute sie an. »Meine Güte, Mary, so kenne ich dich ja nicht. Was ist denn los mit dir? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Du bist ja völlig von der Rolle, richtig geistesabwesend.«
Ich habe auch ein Gespenst gesehen. Sogar zwei. Das aber sagte sie nicht, sondern behielt es für sich. Sie wollte sich nicht lächerlich machen, denn diese Entdeckung hätte ihr keiner geglaubt.
»Warum sagst du nichts?«
Mary wischte über ihre Augen. »Entschuldige, Elly, aber ich habe wohl geträumt.«
»Das hast du auch. Kommst du denn in einer Woche zu unserem Bridge-Abend? Wir anderen drei sind da. Das ist schon klar. Und gespielt wird dann bei mir.«
»Natürlich komme ich, Elly, natürlich.« Sie antwortete hastig. Sie wollte auch nicht mehr länger mit der Freundin sprechen, sondern weg und die beiden Geister verfolgen. »Wenn du mich jetzt entschuldigst. Durch meine Träumerei ist schon zuviel Zeit verlorengegangen. Wir sehen uns dann noch, Elly.«
Mary hatte es plötzlich so eilig, daß die andere Frau ihr nur kopfschüttelnd hinterherschauen konnte. Sie begriff nicht, wie man von einem Extrem ins andere fallen konnte.
Sehr schnell schob Mary Sinclair ihren Einkaufswagen weiter. Sie erreichte den Bereich, wo eben frisches Obst und Gemüse angeboten wurde und auch die beiden vollbepackten Paletten standen. Sie umgaben die Tür wie viereckige Wächter.
Es war eine sehr breite Tür, die auf einer Schiene lief. Innen und außen war jeweils ein Schalter angebracht, aus dem ein dunkler Knopf hervorstach. Wurde er gedrückt, nahm ein Elektromotor seine Arbeit auf und schob die Tür zur Seite.
Mary überlegte. Sollte sie den Schalter betätigen?
Es war den Kunden nicht erlaubt, ohne Begleitung das Lager zu betreten. Die beiden Geister hatten diesen Weg genommen. Mary konnte sich vorstellen, daß es ihnen leicht möglich war, auch durch eine geschlossene Wand zu streifen, denn für feinstoffliche Wesen durfte es eigentlich keine Hindernisse geben. Bei ihnen waren die Naturgesetze aufgehoben worden.
Die Spannung wuchs.
Das Gefühl sagte ihr, daß sie etwas verpaßte, wenn sie es nicht wagte. Auf der anderen Seite konnte es auch gefährlich werden. Sie war eine ältere Frau und kein Geisterjäger wie ihr Sohn.
Aber die Neugierde blieb.
Mary Sinclair drehte den Kopf. Nur mal schauen, ob ich beobachtet werde, dachte Mary. Fast lächelte sie über sich selbst, denn sie benahm sich wie ein junges Mädchen, das nicht wußte, ob es sich vor dem Freund verstecken oder auf ihn zugehen sollte.
Kunden befanden sich nicht in der
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