"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
waren im Urlaub, im Pustertal, Südtirol. Und wir durchwanderten gerade den Rosengarten mit der imposanten Kulisse der Drei Zinnen, als plötzlich sein Fotoapparat in den Abgrund stürzte. Instinktiv hatte sich mein Vater gegen den Berg geworfen, die Kamera purzelte auf die andere Seite. Er hatte einen Schlaganfall bekommen, seinen ersten. In der Nacht sollte der zweite folgen, der, der vieles zerstörte und dafür sorgte, dass ich einen zweiten Vater bekam.
Als er aufwachte, die Aufenthalte in Kliniken und Reha-Zentren hinter sich hatte, mit Hilfe eines Logopäden mühsam wieder lernte zu sprechen, war er ein anderer Mensch. Nicht mehr der mondäne, honorige Direktor einer Frankfurter Bank, nicht mehr der abwägende, geduldige, weitblickende, gelassene Manager. Er war herrisch, launisch, bisweilen gar hysterisch. Saß in sich gekehrt, las, löste Kreuzworträtsel, hatte die F.A.Z. gegen BILD getauscht und schaute immer öfter nur noch via Bildschirm in die Ferne. Es dauerte lange, ehe ich das alles verstehen konnte, das alte Bild von meinem Vater im Kopf verblasste und ich das neue zuließ. Ich litt, hatte Mitleid, und manchmal war ich einfach nur enttäuscht ob seiner plötzlichen verbalen Aggressivität.
Aber es war, so denke ich heute, eine Art Unzufriedenheit mit sich selbst, eine Ungeduld. Er hatte alles noch im Kopf, seine Reisen, sein Wissen, seinen Werdegang vom schwimmbegeisterten Gymnasiasten aus Leipzig über den Schiffbaustudent in Rostock und den Bankkaufmann in Frankfurt/Main. Er wusste genau, was er sagen wollte. Aber nicht mehr, wie er es ausdrücken sollte. Immer wieder suchte er nach Begriffen und verzweifelte darüber, dass ihm die passenden zur rechten Zeit nicht mehr einfielen, zumindest nicht über die Lippen kamen. Er konnte nicht mehr umsetzen, was vor wenigen Monaten noch seine leichteste Übung war. Ihm fehlten also Worte und manchmal auch die Beherrschung. Und nicht zuletzt gab es Menschen, die sich Freunde nannten. Aber nur so lange, wie sie von den Kontakten und dem Fachwissen meines Vaters profitieren konnten.
Es war ein Schock, als ich damals die Worte einer guten Freundin meiner Eltern hörte. Sie klingen mir noch heute im Ohr. »Ach, der Karl-Heinz«, der sei ja ein »Depp geworden«. Ich habe das nie vergessen. Und ich habe es auch nie verziehen.
Mein Vater spürte diese plötzliche Geringschätzung. Er sagte es nicht. Zumindest hier funktionierten sie noch, die Reflexe: Schweigen, nur diese vermeintliche Harmonie nicht aufs Spiel setzen. Man war doch schon so lange befreundet, und wen hätten sie sonst? Die Jahre vergingen, mein Vater hatte einiges zu schlucken, vor allem Arznei. Wir alle lernten mit den veränderten Bedingungen umzugehen. Krankenhaus- und Arztbesuche wurden Routine. Eines war gewiss: Hätte es meinen Schwager nicht gegeben, den Arzt, der meinem Vater schon eine Malaise im Gesicht ansah, Tage, bevor sie begann, und entsprechend präventiv aktiv wurde, er wäre längst gestorben. Der Wunsch des Karl-Heinz Frommert war es immer, wenigstens noch die Jahrtausendwende erleben zu dürfen. Er schaffte es locker. Er übertraf sein Ziel um fast elf Jahre. Aber der innere Zerfall war unaufhaltsam. Noch heute ist es für mich unfassbar, mit welcher Würde er ein Leben meisterte, das kein richtiges mehr war. Die Lunge hatte zum Großteil ihre Funktion eingestellt, die Milz bildete sich wie ein Medizinball unter seinem Hemd ab, da sie die blutbildenden Aufgaben des erkrankten Knochenmarks übernahm. Das Herz lief nur noch auf halber Kraft, das dünne Männchen schaffte es oft nicht mehr rechtzeitig aus dem Sessel zur Toilette. Man konnte ihm beim Leiden zusehen, aber er verlor kein Wort darüber. Selbstmitleid kannte er nicht. Und er wusste, dass er in besten Händen war. Meine Mutter hatte seit dem Schlaganfall auch nicht nur eine Sekunde lang daran gedacht, Hilfe zur Pflege in Anspruch zu nehmen. Egal, wie schlimm es wurde.
Und es wurde schlimmer seit diesen Tagen im Sommer 1981. Schleichend, aber beständig. Gut drei Jahre später saß mein Vater wieder am Steuer. Irgendwo auf der A29 zwischen Wilhelmshaven und Oldenburg krampfte meines Vaters Hirn, überfordert vom Bremsen, Blicken, Blinken. Er saß da und zeigte keine Reaktion mehr. Er stierte nur noch nach vorne, der Regen prasselte gegen die Scheibe, den Wischer einzuschalten vermochte er nicht mehr. Das schließlich hat wohl meine Mutter und mich gerettet. »Willst du denn nicht mal den Scheibenwischer anmachen?«,
Weitere Kostenlose Bücher