"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
fragte sie ihn. Als auch auf diese Frage keine Reaktion kam, waren wir uns sicher, dass es übel ausgehen würde. Warum das Auto plötzlich auf dem Seitenstreifen stand, vermag heute noch niemand zu sagen. Ein Schreien, ein Ins-Lenkrad-Greifen, ein Hieb von mir auf seinen Brustkasten, und irgendwie muss mein Vater dann noch die Kurve bekommen und die Bremse getreten haben. Er erinnerte sich an nichts mehr, als er wenige Tage später das Krankenhaus in Oldenburg wieder verlassen durfte.
Es war nicht nur dieser stetige gesundheitliche Verfall, der mich dabei bedrückte. Es beeinflusste mich auch in meiner innersten persönlichen Entwicklung. Wenn es stimmt, dass es der Vater ist, der den Sohn zum Mann werden lässt, dann war diese Entwicklung bei mir beendet, ehe sie begonnen hatte. Ich verlor zu früh meinen Helden, einen Vertrauten – einen Berater, der mir sagt, wie ich mich behaupte, wohin mein Weg führen und wie er aussehen könnte: beruflich, moralisch, sexuell. Wer weiß, vielleicht hätte mich sein weiser und strenger Rat vor einigen Schritten und Fehltritten bewahrt?
Mein Reifeprozess ist damals auf der Strecke geblieben. Irgendwo zwischen Auronzo- und Dreizinnen-Hütte in den Sextener Dolomiten. Im Sommer 1981 hatte mein Vater mit einem Schlag die Kraft verloren, für mich eine Autorität zu sein, Maßregler, Instanz, Vorbild. Der Schlag traf also auch mich. Ich hatte so viele Fragen an ihn. Und er wusste plötzlich nicht mehr zu antworten. Die Fragen wurden also nie gestellt, denn an den Antworten meiner Mutter war ich nicht interessiert. Der Mann in meinem Vater ist in der Zeit verschwunden, in der er für mich körperlich präsenter war als je zuvor. Keine tägliche berufsbedingte Abwesenheit, keine Dienstreisen, immer da. Doch aufgrund seiner Krankheit wurde er für mich just in der Zeit unerreichbar, als ich mich aufmachte, ihn näher kennenzulernen, ergründen zu wollen. Zu lernen von seinen Erfahrungen als Mensch, als Versorger, als Familienoberhaupt. In einer Zeit, in der ich neugierig wurde auf ihn, auf das Leben und was man so anfangen kann mit beidem.
So sind wir uns durch seine Krankheit räumlich nahe gekommen, emotional aber vermochten wir das nie zu nutzen. Es gelang uns nicht mehr, in die Tiefe zu gehen. Zu Hause wurde nicht geredet über Karriere, Partnerschaft, Sex. Mit einer Mama sind nun einmal keine Männergespräche zu führen, auch wenn meine Mutter wie selbstverständlich auch noch Papas Job übernahm, den Sohn zu formen. Und sie hatte klare Vorstellungen: Jurist, Doktortitel wäre schön, konservativ, kompetent, kleinstadtgesellschaftsfähig eben. Daraus wurde nichts. Das, was ich aus mir machte, war so gar nicht nach ihrem Geschmack. Journalist? Brotlos! Frankfurter Rundschau ? Linkes Blatt! Es hätte nicht viel schlimmer kommen können.
Das Leben hinterließ also bei uns allen immer tiefere Spuren und Narben, bei meinem Vater sicherlich die gravierendsten. Und nun musste er seinem eigenen Sohn auch noch dabei zusehen, wie der sich hungernd zu Grunde richtete. Aus freien Stücken. Er sah, er sagte auch etwas dazu, er mahnte und warnte, wie es eben in seinen Möglichkeiten stand. Und er wahrte dabei noch immer diese höfliche Distanz. Letztlich fehlten ihm aber wohl schlicht die Worte für das, was mit mir geschah. »Wem nicht?«, möchte man fragend dazwischenrufen, aber für Angehörige der Nachkriegsgeneration ist jemand, der freiwillig und ohne Not hungert, immer noch viel schwerer zu verstehen als für jüngere Semester. Und die Not, die ich schließlich doch leide, die kann er nicht begreifen, woher denn auch? Und wie erleichtert, wie froh war er gewesen, als es mir dann langsam besser ging, als die Lebensgefahr abgewendet war und das Leben tröpfchenweise wieder in mich einströmte. Noch immer konnte er dem Drang nicht widerstehen, mir ein paar kleine Essenstipps zu geben. Aber er war viel zu intelligent, um nicht zu erkennen, dass es vergebliche Liebesmüh war, dass er mich damit nicht erreichte.
Zu reden hätte es viel gegeben in unser beider Leben. Ich hatte hohen Respekt vor meinem Vater, der für mich über Jahre der Mann war, der morgens um 6.30 Uhr mit Anzug und Krawatte, gebunden mit dem perfektesten Knoten, den ich je sah, aus dem Haus ging und abends um ungefähr 18.30 Uhr um die Straßenecke bog, wo ich ihm nicht selten entgegenstürmte. Einmal überschlug ich mich quasi vor Freude, ihn zu sehen. So sehr, dass ich ein paar Zähne dabei verlor.
Ich sah meinen
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