"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
nennt. Ich war begeistert. So hatte ich mir das in meinen Träumen vorgestellt. Alles. Herrlich. Und die Besitzerin schien mir auch durchaus zuzutrauen, zumindest noch so lange zu leben, bis der Kaufpreis überwiesen war. Ich signalisierte mein Interesse mit großer Vehemenz. Man verabredete ein nächstes Treffen. Ich musste los, auf Papa aufpassen. Ich fuhr also via Alzey und meine Geburtsstadt Worms über den Rhein nach Bürstadt. Mein Vater saß im Sessel, und ihm war die Freude anzumerken. Darüber, mich zu sehen, und darüber, mich zu hören, wie ich vom eben Gesehenen schwärmte. Ich zeigte ihm Bilder, er spürte, dass so etwas wie Lust, Leidenschaft und Leben in mich zurückgekehrt war. Vielleicht hat ihn dies dazu ermutigt, ein Gespräch zu beginnen, dass wir nie vorher führten. Er ließ sich bis auf den Grund seines Herzens und seiner Seele blicken. Er öffnete sich in einer Weise, die wehtat und später (m)ein Segen sein sollte.
Das Haus würde er nie sehen, aber er freue sich so sehr, dass ich mich so freute. Und meine Besserung, meine Begeisterung erlaubte es ihm, loszulassen. Und dann entfuhr ihm dieser Satz: »Christian, ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr. Ich habe mein Leben gelebt. Es war ein schönes Leben.«
Ich verglich ihn stets mit einer alten, sehr wertvollen Maschine. Immer wieder gibt irgendein Teilchen seinen Geist auf, Ersatz ist keiner mehr zu finden. Aber irgendwie läuft das Maschinchen weiter und weiter und immer weiter. Im Spätsommer 2010 hatte mein Vater keine Lust mehr zu laufen.
Es ging dann sehr schnell. Und dennoch war der Zeitpunkt überraschend und natürlich zu früh. Die Menschen gehen immer zu früh. Es ist immer dieser eine Tag, diese eine Woche – dieses eine symbolische Datum, das sie doch noch hätten erleben sollen aus Sicht der Hinterbliebenen.
Mein Leben lang hatte ich Angst vor diesem einen Anruf. Ich hatte dieses Szenario schon so oft durchgespielt und schnell versucht aus dem Kopf zu bekommen, weil ich dachte: Dann passiert es auch. Das Telefon klingelt, ich gehe ran, und eine Stimme sagt: »Dein Vater/deine Mutter ist tot…« In mir brach eine Welt zusammen, noch ehe es einen Grund dafür gab. Ja, ich herrschte Freunde und Bekannte an, wenn sie sich erdreisteten, meine Privatnummer zu wählen. Die hatten nur wenige, und ein abendlich klingelndes Privattelefon bedeutete für mich: Es ist etwas passiert …
Es war der 31. August 2010. Ich musste an diesem frühen sonnigen Sommerabend nach Frankfurt. Dort auf einem Nebenplatz der Commerzbank-Arena trainierte die Nationalmannschaft, bereitete sich auf ihr erstes Qualifikationsspiel zur Europameisterschaft 2012 vor. Der Gegner würde Belgien sein. Ich wollte gerade aussteigen, als das Handy klingelte und mir das Display zeigte: FROMMERT . Noch nie hatten mich meine Eltern auf dem Handy angerufen, ich dachte also, ich sei auf die Telefontaste gekommen. Ich drückte das Gespräch weg. Es klingelte noch einmal, und mir war klar, was folgen würde, noch ehe ich auf »Annehmen« drückte: »Christian, Papa ist tot!«
Leere. Nichts. Kein Gefühl. Ein Gedanke: Ich muss jetzt erst mal auf den Platz. Ich erklärte den Sicherheitsleuten, wer ich bin, Harald Stenger hatte mich angekündigt. Jedem, den ich traf, sagte ich: »Mein Vater ist eben gestorben. Ich muss wieder gehen.« Ich fühlte mich wie an einer Schnur gezogen. Irgendwann ging ich, und ich weiß nicht, welche fragenden Gesichter ich hinterließ.
Ich fuhr nach Heppenheim, ich ging in diese Klinik, in dieses Zimmer und machte das, was ich für mich stets ausgeschlossen hatte. Apodiktisch fast: Ich will meine Eltern nicht tot sehen, ich will sie lebend in Erinnerung behalten. Ich öffnete die Tür, und meine Mutter saß da, am Bett, in dem mein toter Vater lag. Ich ging zu ihm, küsste ihn, sah ihn, und es war eines der unglaublichsten Gefühle, die ich je hatte. Eine Art Beseeltheit machte sich breit. Eine Art innerer Frieden. Alles fiel von mir ab. Sein Anblick versöhnte mich mit allem. Mein Vater erteilte allem und jedem Absolution. Er hatte nicht gelitten. Er sah so aus, wie jemand aussieht, der mit einem Lächeln auf den Lippen einschlief, nachdem sich ein großer Wunsch erfüllt hatte. Kein Kampf ums Leben, kein Ringen mit dem Tod. So ist er noch heute in meinem Kopf. Auch dann, wenn ich ihn besuche und mit ihm rede, auf dem Friedhof. Manchmal denke ich, wir sind uns im Tod näher, als wir uns im Leben waren. Er musste nicht mehr annehmen,
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